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       # taz.de -- Öko-Wandergruppe „Klimapilger“: Der lange Marsch zur Natur
       
       > 1.600 Kilometer für Gerechtigkeit: Seit September laufen die
       > „Klimapilger“ von Bonn nach Kattowitz – um das Thema Umwelt ins Land zu
       > tragen.
       
   IMG Bild: Im Namen der Natur unterwegs: die Öko-Wandergruppe „Klimapilger“
       
       JÄNSCHWALDE/ BERLIN taz | Ein grauer, kalter Montagmorgen, vor dem
       Bundeswirtschaftsministerium in Berlin. Vor dem Eingang drängen sich etwa
       200 junge UmweltschützerInnen, sie rufen [1][„Hambi bleibt“] und „Die Macht
       der Konzerne brechen“, das Blaulicht der Polizei flackert über die
       Fassaden. Zwei Stockwerke höher versammelt sich gerade die
       „Kohle-Kommission“, um ihren Bericht noch um sechs Wochen zu verzögern. Und
       die Frau vom Ministerium, die auf Constanze Latussek und ihre Klimapilger
       wartet, schaut auf die Uhr: „Wir haben keine Zeit mehr.“
       
       Die Ministeriumsdame im eleganten Businessoutfit meint den engen Terminplan
       ihres Staatssekretärs Ulrich Nußbaum. Der will im Haus die Forderungen der
       Pilger entgegennehmen. Und die drängen sich jetzt auch schon durch die
       Menge: sechs Frauen und Männer in bunten Fleecejacken, Trekkinghosen und
       Wanderstiefeln, mit Wimpeln an den Rucksäcken und warmen Mützen auf dem
       Kopf. Auch für sie drängt die Zeit, aber anders. Sie wollen einen schnellen
       Kohleausstieg.
       
       Die Abordnung verschwindet am Seiteneingang des Ministeriums. Eine Stunde
       vorher standen sie noch mit 40 Unterstützerinnen und Unterstützern, einer
       Flöte, einer Gitarre und zwei Posaunen davor. Sie lasen aus der Bibel den
       Schöpfungsbericht vor, sie beteten das Vaterunser, sie sangen „Da berühren
       sich Himmel und Erde“. So wie sie es seit zwei Monaten und 1.620 Kilometern
       jeden Morgen gemacht haben: erst ein kurzer Gottesdienst, dann marschieren.
       „Wer hier mitläuft, muss nicht unbedingt sehr gläubig sein“, sagt Wolfgang
       Eber, von Anfang an dabei, „aber er muss zwei Andachten am Tag aushalten.“
       
       Neben den offiziellen Verhandlungen, den Mahnungen der Wissenschaftlerinnen
       und Wissenschaftler, den Protestaktionen der Umweltbewegung und dem Druck
       der Wirtschaftsverbände gibt es noch eine andere Art, sich auf den
       [2][UN-Klimagipfel in Kattowitz] vorzubereiten: jeden Tag 25 Kilometer zu
       wandern. Der „3. Ökumenische Pilgerweg für Klimagerechtigkeit“ hat Anfang
       September in Bonn begonnen, vor einem Jahr am Ort der Konferenz.
       
       ## Mit Gleichgesinnten wandern
       
       In zwei Wochen wollen die religiösen Umweltschützer unter der
       Schirmherrschaft von Ex-Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) nun bei
       der COP 24 eintreffen. Manche waren schon dabei, als sie 2015 zur Konferenz
       nach Paris und 2017 nach Bonn ging. Die Idee: Das Thema Klimagerechtigkeit
       auf die Straße und in die letzten Dörfer zu bringen, mit Menschen zu reden
       oder „einfach nur jeden Tag etwas zu tun“, wie es ein Teilnehmer sagt. Und
       sei es nur, acht Stunden mit Gleichgesinnten zu wandern, mit
       Andersgesinnten zu debattieren oder einfach mal zu schweigen.
       
       „Wir sprechen für 45 Millionen Menschen“, sagt Constanze Latussek
       selbstbewusst, als sie mit den Kopien ihrer Forderungen zu Staatssekretär
       Nußbaum ins Wirtschaftsministerium marschiert. Zu den Forderungen gehört:
       „Entschiedener die Ziele des Pariser Vertrags verfolgen“, mehr Geld für die
       Armen, verbindliche Regeln für alle Staaten bei CO2-Minderung,
       Reduktionsziele für den Verkehr.
       
       45 Millionen, so viele Gläubige haben die evangelische und die katholische
       Kirche in Deutschland noch, die von der Bischöfin an der Spitze bis zum
       Ortspfarrer die Pilger unterstützen und aufnehmen: Jede Nacht schläft die
       Gruppe in Gemeinden, Turnhallen oder Privathaushalten. Viele Typen sind
       vertreten: rüstige Rentner, engagierte Freischaffende aus der Computer-
       oder Solarbranche, Vorruheständler, ehemalige Jakobsweg-Pilger, junge
       Aktivisten. Ihre Tour durch Deutschland führt an „Schmerzpunkten“ vorbei:
       den Tagebaulöchern am Hambacher Forst, in Mitteldeutschland und in der
       Lausitz. Aber ebenso an „Kraftpunkten“, wo Menschen in Umweltprojekten
       arbeiten oder erneuerbare Energien voranbringen.
       
       Die Kirchen finanzieren zusammen die Organisation des Pilgerwegs und
       fordern mehr Klima- und Umweltschutz. Vor drei Jahren machte die
       Öko-Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus Furore, viele Gemeinden
       engagieren sich bei Energiebilanzen und fairem Kaffee. Die kirchlichen
       Hilfswerke Misereor und Brot für die Welt trommeln für internationale
       Solidarität und Gerechtigkeit. Die Pilger sehen durchaus, dass die Kirchen
       nicht immer ihre eigenen Ansprüche an die Bewahrung der Schöpfung einlösen.
       Trotzdem: „Sie können gar nicht anders“, sagt Langzeitpilger Jens Knölker.
       „Bewahrung der Schöpfung, das haben die Kirchen in ihrer DNA. Dabei kannst
       du sie immer packen.“
       
       ## „Füße der Friedensboten“
       
       Wenige der Pilger gehen jeden Sonntag in die Kirche. Aber viele denken,
       dass das ab und zu auch nicht schaden kann. „Das Spirituelle ist ein Teil
       dabei, allein das lange Laufen lässt einen manchmal meditieren“, sagt ein
       Teilnehmer. „Ich habe mich gefragt, ob es mich stört, öfter in der Kirche
       zu sitzen, aber das ist gut für mich“, sagt ein anderer.
       
       Zwei Wochen vor dem Termin in Berlin steht die Gruppe auf dem zugigen
       Parkplatz vor dem Braunkohlekraftwerk in Jänschwalde. Die Aktivisten
       drängen sich hinter ihrem knallgelben Plakat „Klimagerechtigkeit heißt
       Kohleausstieg“ im kalten Wind zusammen, hinter ihnen erhebt sich ein
       Gebirge aus sieben gigantischen Kühltürmen des Kraftwerks. Jänschwalde
       verfeuert bei voller Leistung jeden Tag 80.000 Tonnen Braunkohle, auf der
       ganzen Welt produzieren nur sechs Kraftwerke noch mehr CO2 als diese sechs
       Blöcke. Aus den riesigen Türmen senken sich dunkle Wolken voller
       Wasserdampf aus der diesigen Luft herab. Der Pfarrer aus Jänschwalde,
       Ingolf Kschenka, zitiert einen Psalm: „Wie lieblich sind die Füße der
       Friedensboten“, um gleich zu fragen: „Und wie riechen Ihre heute?.
       
       Kschenka erinnert daran, dass Kraftwerk und Tagebau der sorbischen
       Bevölkerung ihre Heimat genommen haben. Das hat die Gruppe an diesem
       9.November auch selbst erlebt. Auf den 23 Kilometern von Cottbus waren sie
       in flottem Tempo durch bunte Herbstwälder an der Spree entlanggezogen, bis
       zum Tagebau Cottbus Nord. Auf der Aussichtsplattform über dem riesigen Loch
       in der Erde hatten Betroffene vom Ort Lakoma erzählt, der an dieser Stelle
       bis Anfang der 90er Jahre lag. „Wir stehen hier im Garten der Familie F.“,
       sagt André Kossack, dem bei der Erzählung seiner Umsiedlung auch fast
       dreißig Jahre später noch die Tränen kommen.
       
       Für Pfarrer Kschenka sind die Pilger wichtig. Er bringt sie mit seiner
       Gemeinde zusammen, wo Menschen in der Braunkohle arbeiten und den
       Kohle-ausstieg fürchten. „Diese Fragen nach Klimaschutz und Arbeitsplätzen,
       die stellt sich hier jeder“, sagt der Pfarrer. Er freut sich, dass die
       Pilger mit seinen Gemeindegliedern ins Gespräch darüber kommen wollen.
       „Sonst reden die verschiedenen Lager hier ja gar nicht mehr miteinander.“
       Die Kirchen hätten beim Pilgerweg eine ähnliche Funktion wie am Ende der
       DDR, meinen andere: der Opposition eine Stimme geben und gleichzeitig das
       Gespräch zwischen den Gegnern nicht abreißen lassen.
       
       Auf dem Weg entlang des Tagebaus wartet ab und zu ein Polizeiwagen. Für die
       Sicherheit, so heißt es. Ein paar Tage vorher, erzählen die Pilger, seien
       sie an einem Tagebau von Angestellten des Kohlekonzerns LEAG auf
       öffentlichem Straßenland angesprochen und später verfolgt worden. Jetzt
       freuen sich die Wanderer auf Kattowitz, wo sie Klimapilger aus anderen
       Ländern treffen wollen. Im nächsten Jahr zieht die COP wahrscheinlich nach
       Brasilien, für 2020 ist Mailand im Gespräch. Jens Knölker freut sich
       darauf: einmal quer über die Alpen pilgern.
       
       27 Nov 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pötter
       
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