URI: 
       # taz.de -- Clubfilmnächte in Berlin: Ekstase und Exodus
       
       > Paradiso in Amsterdam, Manchester-House, „Desert Shows“: Fünf Filmabende
       > im Club widmen sich spannenden subkulturellen Phänomenen.
       
   IMG Bild: „Es ist eigentlich so viel mehr als nur ein Gebäude mit einer Bühne“: Henry Rollins über das Paradiso
       
       Henry Rollins meditiert. Er sitzt backstage auf einem Sofa, beugt den Kopf
       nach vorne, spricht mantraartig einen Text vor sich hin. Gleich geht’s da
       raus. Raus auf die Bühne des Paradiso in Amsterdam, diesem Konzertort mit
       der langen, bewegten Geschichte, dem sich selbst ein Bulldozer wie Rollins
       fast demütig, ehrfürchtig nähert.
       
       „Sicher, am Ende ist es nur ein Gebäude mit einer Bühne. Aber eigentlich
       ist es viel mehr als das“, erklärt er in dem Dokumentarfilm [1][„Paradiso,
       An Amsterdam Stage Affair“,] „all diese Leute standen hier vor dir auf der
       Bühne. Und jetzt du. Das ist wirklich etwas, was dir durch den Kopf geht.“
       
       Mit „all diesen Leuten“ meint Rollins etwa Pink Floyd, Captain Beefheart
       oder das Sun Ra Arkestra, die in den Anfangsjahren des 1968 eröffneten
       Clubs spielten; später fügten sich Patti Smith, die Sex Pistols, die
       Ramones, die Dead Kennedys, Joy Division, Prince und Nirvana in die
       illustre Reihe ein. Um einige wenige zu nennen.
       
       Das Paradiso ist eine echte Kathedrale der Gegenkultur, denn die in einer
       alten Kirche angesiedelte Venue war schon zu 68er- und Hippie-Zeiten der
       place to be und ein beliebter Ort, um Drogen zu konsumieren. Später
       übernahmen die Punks und die Waver.
       
       Schon von außen macht der neoromanische Bau nahe dem berühmten Leidseplein
       ordentlich Eindruck, von innen strahlt er trotz der kirchlichen Anmutung
       mit seinen Balustraden etwas Warmes aus. Der Film von Jeroen Berkvens, der
       sich dieser Clubkulturlegende widmet, erzählt die Paradiso-Geschichte
       mittels vieler Interviews und Konzertausschnitte – aber dank der
       Überblenden, des oft verwendeten Splitscreens und der Detailaufnahmen auch
       nicht auf allzu konventionelle Art und Weise.
       
       Zu sehen ist der selten gezeigte Film über das Paradiso (aus dem Jahr 2012)
       im Rahmen der Berliner Clubfilmnächte im SO36. Die Reihe hat Andreas
       Döhler, ehemaliger Betreiber der Programmkinos Central und Eiszeit, vor
       zwei Jahren ins Leben gerufen; an fünf Abenden hintereinander werden Filme
       zu sub- und clubkulturellen Themen gezeigt. Für die Projektionen geht man
       erfreulicherweise in die Clubs der Stadt.
       
       ## „Generator Parties“
       
       Die Auswahl der Filme ist dabei, nicht nur was diesen Film betrifft, sehr
       gelungen. Denn Dokumentationen wie „Manchester Keeps On Dancing“ über die
       frühe Acid-House-Szene und „Desolation Center“ über die ersten „Generator
       Parties“ in der Wüste außerhalb von Los Angeles etwa vermitteln denen, die
       nicht dabei waren, ein Verständnis dafür, wie und warum sich diese
       Subkulturen bildeten und was die entstandenen Orte und Bewegungen für die
       Menschen bedeuteten, sozial, lebensweltlich, atmosphärisch.
       
       So kann man in [2][„Manchester Keeps On Dancing“] (2017) von Javi Senz
       nachverfolgen, welchen Wandel es für die Industriestadt bedeutete, als in
       der zweiten Hälfte der achtziger Jahre der House aus Chicago
       herüberschwappte. Im Zentrum des Films steht die Szene rund um den
       berühmten Club Haçienda, der 1997 die Pforten schloss und der nicht zum
       ersten Mal Gegenstand eines Films ist.
       
       Regisseur Senz fokussiert hier zum einen stark auf die Initialzündung
       Housemusik, die den bereits seit 1982 bestehenden Club grundlegend
       veränderte. Mike Pickering, DJ im Haçienda zu jener Zeit, beschreibt das im
       Film eindrücklich: „So grau, wie Manchester damals war, erschien einem das
       Haçienda wie ein Raumschiff, das in der Stadt landet. So revolutionär, so
       leuchtend. Es gab zuvor keinen Club wie diesen.“
       
       Die Leute begannen anders, roboterartig zu tanzen, berichten die
       Protagonisten der damaligen Zeit – neben Pickering kommen etwa Greg Wilson
       und Marshall Jefferson zu Wort. Die Besucher groovten sich in Trance und
       Ekstase, wobei sie zunächst natürlich gar nicht wussten, dass sie zu
       Housemusik tanzten.
       
       Denn als frühe Houseplatten wie [3][„No Way Back“] von Adonis in England
       eintrafen, fragten sich alle noch: „Was zur Hölle ist das?“ So etwas war
       neu. Insgesamt ist stark an der Dokumentation, dass verfolgt wird, wie
       Clubkultur Manchester prägte und bis heute prägt.
       
       Der Film [4][„Desolation Center“] (2018) dagegen nimmt Freiluftpartys in
       den Blick, und zwar ganz besondere. „Desolation Center“ hieß eine Reihe von
       Konzerten, die Veranstalter Stuart Swezey im L. A. der frühen Achtziger an
       ungewöhnliche Orte verlegte. Es war die Zeit von Bands wie Minutemen, die
       eine völlig andere Version von Punk auf die Bühne brachten und den Weg für
       die Entwicklung der Undergroundmusik in jener Dekade ebneten.
       
       Punkkonzerte wurden seinerzeit in L. A. immer wieder von der Polizei
       angegriffen und aufgelöst. Also organisierte Stuart Swezey 1983 den „Mojave
       Exodus“: Mit Stromgeneratoren, Verstärkern und Instrumenten fuhren die
       jungen Punks mit dem Bus raus in die Wüste und veranstalteten dort ihre
       Konzerte.
       
       ## Minutemen und Neubauten
       
       Die Ersten waren ebenjene Minutemen und Savage Republic, später folgten
       legendäre Wüstengigs von den Einstürzenden Neubauten oder Sonic Youth. Dass
       Veranstalter Swezey heute als Filmemacher die Geschichte selbst
       nacherzählt, hätte dazu führen können, dass „Desolation Center“ zur
       Selbsthuldigung verkommt – in diesem Fall merkt man es aber kaum, dass
       einer der Beteiligten die Story nacherzählt.
       
       Gemein ist all diesen Orte und Veranstaltungsreihen, dass sie Game Changer
       waren, um mal ein Modewort, genauer gesagt zwei, zu benutzen. Das Paradiso
       hat, wie bei dem Namen nicht anders zu erwarten, mit dafür gesorgt, dass
       Amsterdam ein Sehnsuchtsort der Gegenkultur wurde. Das Haçienda hat es
       geschafft, dass Manchester London in Sachen Clubkultur zeitweise überholte.
       
       Und die Desert Shows haben prominente Nachahmer gefunden und später ein
       ganzes Genre – den Stoner Rock – maßgeblich beeinflusst. Ganz davon
       abgesehen, dass es das Burning Man Festival oder das (amerikanische)
       Lollapalooza ohne diese Konzerte wohl nicht gegeben hätte.
       
       Es entsteht an diesen Orten, mit diesen Gigs eben immer etwas, was more
       than music ist. Der kanadische Musiker Patrick Watson findet in „Paradiso.
       
       An Amsterdam Stage Affair“ treffende Worte dafür: „Für mich ist es mit der
       Musik ein bisschen wie mit der Architektur. Leute, die Gebäude entwerfen,
       schaffen sie als etwas, das größer ist als sie. In der Musik ist es
       ähnlich: Wenn du Songs mit dem Ansatz spielst, etwas zu schaffen, das
       größer ist als du, sind sie kraftvoller, denke ich.“ Ebendiesen Ansatz und
       die Magie der Orte bringen die Filme der Clubfilmnächte bestens rüber.
       
       3 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://vimeo.com/77925078
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=mvKNlP32naY
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=cZj9oQ-5aaY
   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=VTMONsYeZtw
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
   DIR Subkultur
   DIR Manchester
   DIR Pop-Underground
   DIR Tiflis
   DIR Der Hausbesuch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Fanzine-Jubiläum im Berlin: Raves hinterm Eisernen Vorhang
       
       Das Fanzine „Zonic“ ist auf Underground-Musik aus den ehemaligen
       Ostblock-Ländern spezialisiert. Zum 25. Geburtstag wird im Arkaoda
       gefeiert.
       
   DIR Musikforscher über das Phänomen Rave: „Im Vorbeigehen erfunden“
       
       Matthew Collin erforscht die globale Dimension des Dancefloor. Ein Gespräch
       über US-House-Pioniere, Partyklassismus und Raveprotest in Tiflis.
       
   DIR Der Hausbesuch: Dunkelbunt, nicht schwarz
       
       Er war Ost-Punk, der im Westen nicht klar kam. Drogen, Prostitution, Knast.
       Heute betreibt Joachim Thiele einen Waschsalon mit Schanklizenz.