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       # taz.de -- Roman „Der Wilde“ von Guillermo Arriaga: Auf den Dächern der Moderne
       
       > Das Epos „Der Wilde“ ist packend erzählt. Es verknüpft die schmerzhaften
       > Erlebnisse eines Jugendlichen in Mexiko mit einem Wolf in Kanada.
       
   IMG Bild: Die Jugendlichen zogen sich auf die miteinander verbundenen Dächer der Nachbarschaft zurück
       
       Als Drehbuchautor der vielfach prämierten Spielfilmtrilogie „Amores
       Perros“, „21 Gramm“ und „Babel“ wurde Guillermo Arriaga international
       bekannt. Nun hat der 1958 in Mexiko-Stadt geborene Schriftsteller seinen
       ambitionierten und mit über 700 Seiten opulenten Roman „Der Wilde“
       vorgelegt. Darin erzählt er von den existenziellen Erlebnissen eines
       Jugendlichen, der Anfang der 1970er Jahre mit seinen Freunden im Viertel
       Unidad Modelo in der mexikanischen Hauptstadt aufwächst.
       
       In Mexiko waren die Jahre nach dem Massaker von Tlatelolco an
       protestierenden Studenten 1968 von latenter Repression und Intoleranz
       gegenüber der Jugend geprägt. Der Autor lebte selbst damals in jener von
       Mario Pani, dem Architekten der mexikanischen Moderne, geplanten
       Modellsiedlung an der Avenida Ermita Ixtapalapa.
       
       Auch dort patrouillierte die Polizei regelmäßig durch das Viertel. Also
       zogen sich die Jugendlichen auf die labyrinthförmig miteinander verbundenen
       Dächer der Nachbarschaft zurück. Diese biografische Erfahrung bildet den
       Rahmen und Ausgangspunkt für den Roman.
       
       In „Der Wilde“ schildert Arriaga die dramatische Entwicklung der Gewalt im
       Leben der Jugendlichen des Viertels aus der Perspektive Juan Guillermos,
       der in der Geschichte als Einziger seiner Familie überleben wird. Bereits
       auf den ersten Seiten nimmt er als Erzähler deren Schicksal vorweg. „Es war
       das letzte Mal, dass ich sie zusammen sah. Im Laufe der kommenden vier
       Jahre würden alle sterben. Mein Bruder, meine Eltern, meine Großmutter, die
       Wellensittiche und King.“
       
       ## LSD über die Grenze
       
       Juans Eltern glauben fest an eine Zukunft durch Bildung. Als einzige
       Familie in der Nachbarschaft schicken sie ihre Söhne trotz der großen
       finanziellen Belastung auf eine englischsprachige Privatschule. Doch
       während Juans Mitschüler aus der Oberschicht die Beatles begeistern, hören
       Juan und seine Freude aus dem Viertel Jimi Hendrix. Die Welt außerhalb der
       Schule ist eine komplett andere.
       
       Sein älterer Bruder, Carlos, gilt als wandelndes Lexikon. Trotz seiner
       Hochbegabung wirft er die Schule hin und beginnt auf den Dächern zunächst
       heimlich mit einer sehr lukrativen Chinchillazucht. Zusammen mit Sean,
       einem in Mexiko gestrandeten, morphiumsüchtigen Vietnamveteranen der
       US-Armee, sowie seinem Freund Diego alias „Castor Furioso“ (dt.: Wütender
       Biber) erweitert er bald das Geschäftsmodell.
       
       Aus den USA schmuggeln sie erst Morphium, später LSD über die Grenze nach
       Mexiko, um es in der Hauptstadt an die Söhne und Töchter der Wohlhabenden
       zu verkaufen. Da sich Carlos stoisch weigert, die Polizei wie üblich an dem
       guten Geschäft zu beteiligen, verfolgt der korrupte Drogenfahnder Zurita
       das Trio mit Besessenheit, wenn auch lange Zeit erfolglos.
       
       Carlos’ direkter Gegenspieler im Viertel ist Humberto, der autoritäre
       Anführer einer katholischen Jugendorganisation. Als paramilitärische Armee
       organisiert, gehen sie mit Brutalität gegen Langhaarige, Schwule oder Juden
       vor. Die Situation gerät außer Kontrolle, nachdem Juan von seinem großen
       Bruder überredet wird, bei Humbertos „guten Jungs“ einzusteigen, um deren
       Pläne auszuspionieren.
       
       ## Korruption und Drogenökonomie
       
       Angesichts der empfundenen Ohnmacht gegenüber der organisierten Gewalt im
       heutigen Mexiko gewährt Arriagas in den 1970er Jahren angesiedelte
       Erzählung einen aufschlussreichen Blick auf die Anfänge von Korruption,
       [1][Drogenökonomie und Parallelstrukturen.] Über seine rivalisierenden
       Protagonisten entwickelt Arriaga eine eigene literarische
       Auseinandersetzung mit diesem oftmals unterschätzten historischen Moment,
       der einen gesellschaftlichen Wendepunkt in Mexiko markiert.
       
       Im Wechsel mit den sich dramatisch zuspitzenden Ereignissen in Mexiko
       [2][erzählt Guillermo Arriaga parallel] von dem jungen Inuit Amaruq
       Mackenzie, der allein in der tief verschneiten kanadischen Wildnis besessen
       einem Wolf hinterherjagt.
       
       „Amaruq stand auf einem Gipfel und beobachtete den großen grauen Wolf und
       sein Rudel, die sich im Wald verloren. Er beschloss, ihn Nujuaqtutuq zu
       nennen: der Wilde.“ Mit starken Bildern und überlegt durchkomponierten
       Zeitsprüngen gelingt es dem Drehbuch-erprobten Autor, beide Erzählstränge
       spannungsreich in eine bis dahin noch offene Richtung voranzutreiben.
       
       Der zweigleisigen Erzählung fügt er aber noch eine weitere Ebene mit
       allerlei interkulturellem und enzyklopädischem Wissen hinzu – von den
       Griechen, den Wikingern, den Inuit, über Honoré de Balzac oder den
       schottischen Chirurgen John Hunter. Auch wenn Arriagas Interesse und
       Intention deutlich werden, so fallen diese eingeschobenen, kürzeren
       Abschnitte im Vergleich zur ansonsten spannungsgeladenen Handlung etwas ab.
       
       ## Tod und Liebe
       
       Und diese hat es in sich: Nach der Ermordung des Bruders und dem Tod der
       Angehörigen bleibt Juan allein mit King, dem Boxer, im Haus der Familie
       zurück. Von Schuldgefühlen, Rachegelüsten und Trauer geplagt, droht ihm das
       Leben aus den Fugen zu geraten. In dieser Situation überredet der Junge
       seine Nachbarn, die Prietos, ihm Colmillo, ihren unkontrollierbaren
       Wolfshund, den sie einschläfern wollen, zu überlassen.
       
       Doch auch Juan hat die Aufgabe unterschätzt und droht zu scheitern. Auf der
       verzweifelten Suche nach Anleitung zur Zähmung des wilden Tiers trifft er
       auf den langhaarigen Zirkusdirektor Sergio Avilés, der ihm zum väterlichen
       Freund wird. Gleichzeitig entdeckt Juan mit der unabhängigen
       Medizinstudentin Chelo, allen widrigen Umständen zum Trotz, auch die Liebe.
       
       In einem Interview beschreibt Arriaga seinen 700-seitigen Wälzer einmal
       knapp als eine Geschichte von Liebe und Freundschaft. Das gilt auch für die
       Erzählung von Amaruq und Nujuaqtutuq. Lebensgefährlich verletzt wird der
       Inuit-Junge in der Wildnis von Robert Mackenzie, einem Ingenieur, entdeckt,
       der dort für den Bau einer Ölpipeline arbeitet.
       
       Als Amaruq im Camp der Arbeiter schließlich stirbt, macht Mackenzie den
       verschollenen Vater seines Namensvetter ausfindig. In einer gemeinsamen
       Reise durch den unwirklichen Norden Kanadas überbringen sie Kenojuac, der
       Mutter, den Leichnam ihres Sohns. Robert aber nimmt den entkräfteten Wolf
       Nujuaqtutuq zu sich, um sich danach nicht mehr von ihm zu trennen. Das
       Leben des Ingenieurs und seiner Familie nimmt fortan einen anderen Verlauf.
       
       Spätestens als Juan, Chelo und Avilés im Pick-up aufbrechen, um Colmillo
       aus Mexiko quer durch die USA zurück zu seinem Züchter in die kanadische
       Wildnis zu bringen, laufen beide Geschichten zielstrebig aufeinander zu.
       Nun scheint der Drehbuchautor in Arriaga die Oberhand zu gewinnen, um die
       Fäden seines so breit ausgeworfenen Netzes aus Handlungen und Personen für
       ein Spielfilm-Ende zusammenzuführen.
       
       Hier hätte er etwas stärker auf die Fähigkeit der Literatur vertrauen
       sollen, auf spielerische Ambivalenz und reizvolle Ziellosigkeit.
       Eigenschaften, die den „Wilden“ über viele hundert Seiten auszeichnen.
       
       3 Dec 2018
       
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