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       # taz.de -- Netflix-Film „Roma“ von Alfonso Cuarón: Verdammtes Hausmädchen!
       
       > In der Netflix-Produktion „Roma“ reflektiert der Regisseur seine Kindheit
       > in Mexiko-Stadt. Der Venedig-Gewinner kommt jetzt in die Kinos.
       
   IMG Bild: Träumt unter der trocknenden Wäsche: Yalitza Aparicio (links) als Cleo in „Roma“
       
       Zu Beginn der 1970er Jahre lebt Cleo im Haus der Arztfamilie Antonio in
       Roma, einem Mittelschichtsviertel in Mexiko-Stadt. Ohne viele Worte kümmert
       sich das Dienstmädchen zuverlässig um den Haushalt, die vier Kinder und den
       Hund der Familie. Ihre Freundin Adela, die Köchin bei den Antonios, nennt
       Cleo liebevoll „Manita“, das Händchen. Im Anbau des Hauses teilen sich die
       jungen Frauen ein Zimmer. Untereinander sprechen sie Mixtekisch, ihre
       Muttersprache.
       
       In „Roma“, dem jüngsten Spielfilm von Alfonso Cuarón, fängt die Kamera das
       turbulente Familienleben und die gleichmütig verrichteten Tätigkeiten der
       Angestellten in beobachtenden Schwarz-Weiß-Bildern ein. Doch während
       draußen auf den Straßen die Studenten für eine gerechtere Gesellschaft
       demonstrieren, verändern einschneidende Ereignisse bald auch das
       Miteinander der Bewohner des Hauses.
       
       Für diese Netflix-Produktion, die zunächst im Kino gezeigt wird und später
       beim US-amerikanischen Streaming-Anbieter zu sehen sein wird, erhielt der
       mexikanische Regisseur und Drehbuchautor bei den diesjährigen
       Filmfestspielen in Venedig den Goldenen Löwen.
       
       Cuarón, der für sein US-amerikanisches Science-Fiction-Drama „Gravity“ 2014
       mit zwei Oscars ausgezeichnet worden war, kehrte für „Roma“ in seine
       Geburtsstadt zurück. Dort fanden die Dreharbeiten mit sorgfältig
       recherchierter historischer Ausstattung und an Originalschauplätzen statt.
       Dabei zeichnete Cuarón nicht nur für Drehbuch und Regie verantwortlich,
       sondern er übernahm auch die Kamera.
       
       ## Intime Momente und eine Gesellschaft im Umbruch
       
       Unterstützt von einer mexikanischen Crew, konnte der 1961 geborene
       Filmemacher eine sehr persönliche Filmerzählung realisieren, die auf
       Erinnerungen an sein damaliges Kindermädchen „Libo“ Rodriguez beruht. Ihr
       hat er den Film gewidmet. Überzeugend gelingt es Cuarón, die intimen
       Momente seiner Kindheit [1][mit historischen Ereignissen jener Jahre]
       zusammenzubringen und in „Roma“ das differenzierte Bild einer Gesellschaft
       im Umbruch zu skizzieren.
       
       Im Zentrum des Films steht der Alltag von Cleo Gutiérrez, die von der
       24-jährigen Laienschauspielerin Yalitza Aparicio aus Oaxaca dargestellt
       wird. Täglich schrubbt sie die Hofeinfahrt und entfernt immer wieder von
       Neuem im Patio die Haufen von Borras, dem Hund. Das Scheuern der
       Steinfliesen, die Geräusche der Straße oder die Musik aus dem Kofferradio –
       jede Szene wirkt dank der von Cuarón verwendeten dreidimensionalen
       Soundtechnik unmittelbar und klanglich definiert.
       
       Mit großer Selbstverständlichkeit nehmen auch die Kinder wie ihre Eltern
       die Dienste der Hausangestellten jederzeit in Anspruch, teilen aber
       zugleich eine zärtliche Vertrautheit und Nähe mit ihr. In einer
       eindrücklichen Szene folgt der jüngste Sohn Cleo tobend aufs Flachdach des
       Wohnhauses, wo sie Kleiderberge der Familie mit der Hand wäscht, während
       auf den Dächern der Nachbarhäuser andere junge indigene Frauen die gleiche
       Arbeit verrichten.
       
       An einem freien Sonntag lernt Cleo mit Adela und ihrem Freund Ramón dessen
       Cousin Fermín kennen. Der junge Mann mit den schwarzen, kurz geschorenen
       Haaren begeistert sich für die asiatische Kampfkunst. Als ihm Cleo Fermín
       einige Wochen später im Kino eröffnet, dass sie ein Kind von ihm erwartet,
       macht er sich noch während der Vorstellung aus dem Staub.
       
       ## Ungerechtigkeit nicht gleich Unmenschlichkeit
       
       Auch das Leben von Cleos Hausherrin Sofía droht aus den Fugen zu geraten,
       als sie erfährt, dass ihr Ehemann, Señor Antonio, nicht auf einem
       Ärztekongress in Quebec weilt, sondern die Familie längst wegen einer
       anderen Frau verlassen hat. Doch Sofía setzt Cleo nicht vor die Tür,
       sondern bietet ihr Hilfe an und vertraut in dieser Situation mehr denn je
       auf die Unterstützung der nun schwangeren Angestellten.
       
       Deutlich bildet „Roma“ in dem widersprüchlichen Arbeitsverhältnis die
       gravierende Ungleichheit der sozialen Klassen in Lateinamerika ab und macht
       trotzdem deutlich, dass diese gelebte Ungerechtigkeit nicht zwangsläufig
       auch von Unmenschlichkeit gekennzeichnet sein muss.
       
       Nur mit Unterstützung des langhaarigen und in Schlaghosen gekleideten Ramón
       macht Cleo schließlich Fermín in Netzahualcóyotl, einem am Stadtrand
       entstehenden Slum, ausfindig. Sie entdeckt ihn beim Stockkampftraining
       inmitten einer militärisch aufgereihten Hundertschaft junger Männer. Voll
       Verachtung jagt er sie davon: „Wenn ich dich und das Kind nicht verprügeln
       soll, dann komm nie wieder hierher. Verdammtes Hausmädchen!“
       
       In Mexiko hatten 1968, zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele,
       bei dem Massaker von Tlatelolco Scharfschützen das Feuer auf friedlich
       demonstrierende Studenten eröffnet. Außerhalb des Landes blieben die bis
       heute nicht aufgeklärten Gewalttaten vom 10. Juni 1971, dem sogenannten
       Halconazo, weniger bekannt. Damals gingen paramilitärische Gruppierungen
       bewaffnet auf einen Demonstrationszug von Studenten los und verfolgten die
       Flüchtenden.
       
       ## Ein gesellschaftlicher Wendepunkt
       
       Cuarón verknüpft in seinem Spielfilm dieses blutige Ereignis mit Cleos
       Geschichte. Während die junge Frau hochschwanger in einem Möbelgeschäft
       eine Wiege aussuchen soll, eskaliert draußen auf der Straße die Situation.
       Als Vermummte plötzlich in den Laden stürmen, um einen fliehenden Mann
       niederzuschießen, entdeckt Cleo den Kindesvater zwischen den Tätern.
       
       Ähnlich [2][wie der mexikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Guillermo
       Arriaga], der in seinem kürzlich erschienenen Roman „Der Wilde“ aus der
       Perspektive eines Heranwachsenden den Beginn paramilitärischer
       Organisierung in Mexiko in den frühen 1970ern beschreibt, blickt auch
       Alfonso Cuarón in „Roma“ auf diesen historischen Moment zurück, der einen
       gesellschaftlichen Wendepunkt markiert.
       
       Nach der Erschießung im Möbelgeschäft kommt Cleos Tochter unter
       dramatischen Umständen in einem öffentlichen Krankenhaus tot zur Welt.
       Unter traurigen Vorzeichen begibt sich Cleo mit Sofía und den vier Kindern
       an die stürmisch verhangene Küste von Veracruz. Dort stürzt sich das immer
       noch traumatisierte Dienstmädchen, obwohl es nicht schwimmen kann, in die
       tosenden Wellen und rettet die Kinder vor dem Ertrinken. Wieder am Strand,
       brechen ihre Gefühle endlich aus ihr heraus: „Ich wollte nicht, dass sie
       geboren wird.“
       
       Zurück in Mexiko-Stadt, trägt nun jeder seinen eigenen Koffer ins Haus.
       Eine Jugendgruppe marschiert im Gleichschritt die Straße entlang.
       
       6 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /68er-Proteste-in-Mexiko/!5494418
   DIR [2] /Roman-Der-Wilde-von-Guillermo-Arriaga/!5552008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
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