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       # taz.de -- Brexit-Hochburg Carlisle: Niemand ist zufrieden
       
       > In der Stadt im Nordwesten Englands stimmten 61 Prozent für den Brexit.
       > Wenn die Menschen jetzt etwas von der Politik erwarten, ist es Klarheit.
       
   IMG Bild: Sorgt nicht gerade für Schönwetter: der Brexit
       
       Carlisle taz | An diesem verregneten Tag lässt nur die Blaskapelle der
       Heilsarmee Weihnachtsgefühle aufkommen. In der Einkaufspassage vor dem
       Rathaus schwenken ein paar Demonstranten den britischen Union Jack zusammen
       mit der EU-Flagge – eine Aktion für ein zweites Referendum, um den Brexit
       zu vereiteln.
       
       Ein 64-jähriger Mann beobachtet aus der Distanz. An seinem Elektromobil ist
       ebenfalls ein Union Jack angebracht, dazu ein Schild, auf dem „Old Git“
       steht. Der „alte Ekel“ ist Armeeveteran, er hat in Nordirland gedient. „Die
       Frau hält den Union Jack verkehrt rum, eine Schande so was“, schimpft er
       über die Demonstranten. Will er denn kein [1][zweites Referendum]? „Nein,
       ich möchte einen richtigen sauberen Brexit! Für die Zukunft meiner Enkel.“
       
       In der Stadt Carlisle im Landkreis Cumbria im Nordwesten Englands nahe der
       schottischen Grenze stimmten beim Brexit-Referendum 61 Prozent für den
       Austritt, im benachbarten schottischen Landkreis Dumfries & Galloway 53
       Prozent für den EU-Verbleib. Aber ob dafür oder dagegen: Mit der
       [2][jetzigen verfahrenen Lage] ist niemand zufrieden.
       
       „Wir brauchen Klarheit“, sagt in Carlisle Keith Walker, 57-jähriger
       Geschäftsführer von Linton Tweeds, das seit den 1920er Jahren
       hochqualitative Stoffe unter anderem für Chanel herstellt. „Momentan bin
       ich im Winterschlafmodus, weil ich nicht weiß, wo es langgehen soll.“ Wohin
       genau, ist ihm egal, er könne das Geschäft anpassen. Persönlich hofft er
       auf einen neuen Deal, aber Angst vor einem „No Deal“ – ein harter Brexit
       ohne Vereinbarung – hat er keine. „Gerade die Deutschen sind zu
       pragmatisch“, glaubt er. Linton Tweeds verkauft nach China, Japan ist schon
       lange Kunde.
       
       ## Könnte Holt nochmal abstimmen – er wäre für die EU
       
       In der Fußgängerzone von Dumfries sind Farmer Mungo Llark und Finanzberater
       Alexander Ginnun, beide über 60, gegen den Deal von Theresa May. „Der
       Brexit muss ein echter Austritt aus der EU sein. Damit kommen wir schon
       klar“, glaubt Llark. Krankenpfleger Dave Holt, 33, war vor zwei Jahren
       ebenfalls für den Brexit, „damit die Einwanderung besser geregelt wird“,
       aber in einem neuen Referendum würde er eher für die EU stimmen.
       
       Stimmung gegen Migranten gibt es in Carlisle durchaus. Laut Volkszählung
       ist die Stadt zu 94 Prozent weiß-britisch. Der lokale Iman Abdul Rashid
       beschwört zwar, dass die Menschen freundlich seien, sie hätten noch echte
       Familienwerte. Ionel Ficau, 45, Lebensmittelhändler aus Rumänien, berichtet
       aber: „Als ich auf Facebook meine Neueröffnung ankündigte, gab es so viele
       rassistische Beschimpfungen, dass Facebook diese Kommentare löschte. Viele
       forderten, ich sollte zurück in mein Land.“
       
       Ficau ging in Rumänien bankrott und zog nach Carlisle, weil hier bereits
       ein Freund lebte. „Ich und meine Frau arbeiteten zwei Jahre lang von
       morgens bis spät in einer Hühnerfabrik und sparten das Geld. Heute besitzen
       wir drei Geschäfte.“ Die Einheimischen, behauptet er, „arbeiten ohne
       Ambitionen und verschleudern dann ihr Geld in den Kneipen oder mit
       Kurzurlauben.“
       
       ## „Migration ist kulturelle Bereicherung“
       
       Mangelnde Zielstrebigkeit – ein Dauerthema. „Viele in Cumbria nehmen den
       ersten Job, den sie kriegen, und bleiben“, sagt Professor Andy Gayle von
       der Universität Cumbria. Das Brexit-Votum analysiert er als Protest gegen
       die politische Klasse.
       
       Und was die politische Klasse sich jetzt leistet? Elizabeth Mallinson,
       konservative Vorsitzende des Kreisrates von Cumbria, will sich zur
       aktuellen Lage nicht äußern. Ihr sei wichtig, dass junge Menschen hier gut
       ausgebildet werden, „damit sie mit dem, was sie gelernt haben, in die Welt
       gehen können, aber auch mit dem, was sie in der Welt gelernt haben, wieder
       zurückkehren“.
       
       Sie betont, die abgelegene Lage stärke zwar die Identität, führe aber auch
       zu Isolation. Dennoch: Jüdische Flüchtlinge, deutsche Kriegsgefangene,
       Flüchtlinge aus der Ukraine, Kosovo und Syrien hätten sich hier
       angesiedelt. „Migration ist kulturelle Bereicherung.“ Aber die EU müsse
       flexibler werden.
       
       ## Der Wunsch nach dem Norwegen-Modell
       
       Bedeckt hält sich auch der Tory-Wahlkreisabgeordnete von Carlisle: John
       Stevenson, gebürtiger Schotte. Er gehört zu dem Parteiflügel, der
       regelmäßig gegen einen harten Brexit rebelliert; er will auch kein neues
       Referendum, sondern ihm schwebt ein Handelsabkommen nach dem
       Norwegen-Modell vor.
       
       Letzte Woche sorgte ein von ihm mitunterzeichneter Zusatzantrag dafür, dass
       bei einer Ablehnung von Theresa Mays Deal das Parlament entscheidet, wie es
       weitergehen kann – wohl ein Grund, [3][warum May den Deal gar nicht zur
       Abstimmung brachte]. Jetzt sagt Stevenson ausweichend: „Wir müssen die
       Ergebnisse der Diskussionen mit europäischen Führern abwarten und dann
       darüber befinden, was – wenn überhaupt – die Premierministerin ins
       Unterhaus mitbringt.“
       
       Am Wochenende präsentierten Künstler*Innen in Carlisle die Ergebnisse des
       [4][Projekts Freiraum des deutschen Goethe-Instituts], in dem Carlisle mit
       dem griechischen Thessaloniki vernetzt wurde. Kinder, Künstler und
       Freiwillige kamen zu Wort, syrische Migrant*innen, psychisch Kranke.
       Pro-Brexit-Stimmen fehlten.
       
       Im Gedicht „Sphere of Freedom“ spricht Philip Hewitson von der „Bewegung
       der Unzufriedenheit“ gegen die „arrogant taube Regierung“ und die
       „Konsequenz schlecht gemachter Entscheidungen“, welche das Land „auf der
       Basis einer gemeinsamen mythischen Vergangenheit in unsichere Zeiten fallen
       lässt“.
       
       Jane Dudman von der Universität Cumbria, die diese Initiative
       mitkoordiniert, glaubt, dass Brexit-Stimmen nicht leicht auf derartige
       Kunst zugehen würden. Aber das sei keine Entschuldigung bei einem Projekt,
       das Grenzen überschreiten möchte. Man hätte vielleicht früher anfangen
       müssen, meint Johannes Ebert, Geschäftsführer des Goethe-Instituts.
       
       Noch 14 Wochen bis zum Brexit – in einem Blumenladen in Carlisle steckt Ann
       Smith, 48, Weihnachtskränze. Was ist denn jetzt mit dem Brexit? „Ja, es
       könnte schwer sein, denn viele Blumen kommen aus Holland.“ Dann überlegt
       sie. „Sie kommen aber auch aus Israel und aus afrikanischen Ländern. Soll
       kommen was mag, ich mache mir keine Sorgen. Ich habe diesen Laden ohne eine
       Lehre alleine aufgebaut. Unsere Art ist es, anzupacken und weiterzumachen.“
       
       12 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Abstimmung-der-Delegierten-zum-Brexit/!5538737
   DIR [2] /Ausstieg-Grossbritanniens-aus-der-EU/!5554310
   DIR [3] /Verschobene-Abstimmung-im-Parlament/!5558243
   DIR [4] https://www.goethe.de/prj/fre/de/index.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn
       
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