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       # taz.de -- Zu Besuch bei der Basis von „Aufstehen“: „Die Sahra“ und das Klein-Klein
       
       > Haben Wagenknecht und die Linke bei „Aufstehen“ zuviel Einfluss? In
       > Berlin vielleicht – in Bochum dagegen dominieren frustrierte SPDler.
       
   IMG Bild: Auf den „Aufstehen“-Demos wird Sahra Wagenknecht wie ein Star gefeiert – nicht nur von den Älteren
       
       BERLIN/BOCHUM taz | Kaum zwanzig Minuten läuft das Gruppentreffen im
       Hinterzimmer des Neuköllner Restaurants Vorwerk, als eine ältere Frau in
       die Runde fragt: „Sind wir nur ein paar Verrückte, die sich Montagabend auf
       ein Bier treffen, oder sind wir jetzt eine politische Bewegung?“ Es ist
       Mitte November, das dritte Treffen von „Aufstehen“, der linken
       Sammlungsbewegung, Ortsgruppe Berlin-Neukölln.
       
       Samuel Dette, 31, Kurzhaarschnitt, versucht die Diskussion zu ordnen. Er
       kritzelt die Themen des Abends auf ein klappriges Flipchart:
       Organisationsstruktur, Schutz der Demokratie, Migration und Integration. Er
       ist seit dem ersten Treffen der Neuköllner Gruppe Mitte Oktober dabei.
       Damals kamen noch 60 „Aufständische“, wie sie sich selbst nennen. Jetzt
       sind es nur noch 30. Am Ende des Abends wird Dette sagen, jeder solle doch
       bitte zum nächsten Treffen eine weitere Person mitbringen. Sonst werde das
       ja nie etwas.
       
       Offiziell gehören deutschlandweit 165.000 Menschen zu „Aufstehen“. Das sagt
       zumindest die Führungsspitze um Sahra Wagenknecht, die die Initiative im
       September angestoßen hatte. Die Zahl leitet sie aus den Abonnenten des
       E-Mail-Newsletter ihrer Bewegung ab. Bei „Aufstehen“ versammeln sich linke
       Wutbürger aus der Anhängerschaft von SPD, Grünen und Linkspartei. Letztere
       scheinen deutlich in der Mehrzahl sein, was an der Basis durchaus kritisch
       beobachtet wird. Dort wächst die Sorge, der Einfluss der Partei könne die
       eigenen Ziele gefährden.
       
       Im Hinterzimmer des Neuköllner Restaurants sitzt Conrad Lehmann, 70 Jahre,
       Goldrandbrille, Pullunder. Am Hemdkragen trägt er als Einziger ein selbst
       gebasteltes Namensschild. Lehmann hat schon neun verschiedene Ortsgruppen
       in Berlin besucht, von Kreuzberg bis Wedding. Seine Hoffnung war zu Beginn,
       dass „Aufstehen“ alle gesellschaftlichen Gruppen ins Gespräch bringt. „Weil
       unser Anliegen größer ist als irgendein parteipolitisches Profil.“
       Mittlerweile verkomme die Bewegung aber zu einem Ersatzteillager der
       Linkspartei.
       
       „Die Linke infiltriert ‚Aufstehen‘“, schreibt Lehmann nach dem Treffen in
       einer Mail. Am Tisch, vor den anderen, wollte er den Gedanken lieber nicht
       äußern. Ohnehin klingt er resigniert. Noch fast jedes Treffen verliere sich
       in endlosen Grundsatzdiskussionen. Es herrsche „blinder, hilfloser und
       sinnloser Aktivismus“.
       
       ## Dieter Dehm singt Lieder von früher
       
       Das Abstimmungstool „Pol.is“ sollte helfen, der Bewegung durch Beteiligung
       im Internet ein politisches Profil zu geben. 33.000 Menschen haben an einer
       ersten Onlinedebatte teilgenommen. Das Ergebnis: 51 Prozent sagen, Politik
       solle sich wieder mehr um deutsche Bürger kümmern. 41 Prozent stimmen dem
       Satz zu: „Ich bin links, will aber trotzdem Patriot sein.“ Außerdem: 65
       Prozent der Teilnehmer sind älter als 30 Jahre. Nur 9 Prozent haben einen
       Migrationshintergrund. [1][Immerhin das ist eindeutig].
       
       An einem Tisch im Neuköllner Restaurant diskutiert eine kleine Gruppe über
       die Organisationsstruktur der Bewegung. Ein Mittdreißiger erklärt, dass
       „Aufstehen“ zunächst einmal Regeln brauche. Er hat eine
       Muster-Geschäftsordnung aus dem Internet ausgedruckt. Eine ältere Dame
       erwidert, sie wolle davon nichts wissen. Sie wolle lieber an Schulen gehen,
       „mit den Jugendlichen mal wieder über Politik sprechen“. „Ja, aber über was
       denn?“, kontert eine Frau links von ihr. „Lasst uns erst einmal ein
       Programm erarbeiten!“
       
       Vielleicht gerade weil sich die Basis derzeit inhaltlich im endlosen
       Klein-Klein zu verlieren scheint, wirkt Sahra Wagenknecht für viele wie ein
       Segen. „Die Sahra“, wie alle sagen, als wäre sie eine alte Freundin.
       
       Anfang November vor dem Brandenburger Tor die erste größere
       „Aufstehen“-Demonstration. 500 Menschen haben sich in der Kälte versammelt,
       um gegen Rüstungsexporte und Sozialstaatsabbau zu demonstrieren. Der
       Linken-Abgeordnete Dieter Dehm singt Lieder von früher, dann spricht
       Wagenknecht. Nach ihrer Rede wird sie gefeiert wie ein Popstar – von Fans,
       die ihre Eltern sein könnten.
       
       Ein paar Meter weiter steht ein junger Mann, über seiner rechten Schulter
       hängt eine Deutschlandfahne. Um ihn herum hat sich ein kleiner Kreis
       gebildet. „Das bin ich schon gewohnt“, sagt er. Manchmal gehe er auch zur
       AfD.
       
       Berlin, seine Heimat, habe sich verändert. „Nicht durch Überfremdung.“ Er
       nennt es Entfremdung. „Man hört immer weniger Deutsch auf den Straßen, ganz
       egal, ob durch Migranten oder Touristen.“ Gibt „Aufstehen“ darauf eine
       Antwort? „Das weiß ich noch nicht“. Bislang fühle er sich aber wohler als
       bei der AfD. Ein paar Meter vor ihm jubelt ein junger Mann in Wagenknechts
       Richtung. Auf seinem Schild steht: „Die AfD in Migrationsfragen abhängen“.
       
       ## Susi klagt ihr Leid über die SPD
       
       Einige hundert Kilometer weiter westlich in Bochum, eigentlich eine
       Hochburg der SPD. Beim [2][„Aufstehen“-Regionaltreffen] für
       Nordrhein-Westfalen drücken sich im Gewerkschaftshaus fast tausend Menschen
       in einen gläsernen Saal. Am Infotisch werden Waffeln gebacken, „Waffeln
       statt Waffen“ steht auf einem Schild. Unter den Teilnehmern hier hat nicht
       die Linkspartei das Übergewicht. Die Mehrheit stellen hier schon eher
       enttäuschte Sozialdemokraten dar.
       
       Susanne Neumann, genannt Susi, tritt an die Bühnenkante und klagt ihr Leid
       über die SPD. „Personal auszuwechseln hat offenbar nix gebracht.“ Neumann,
       Reinigungsfachkraft und Gewerkschafterin, wurde in den vergangenen Jahren
       kurzzeitig berühmt, nachdem sie auf einer SPD-Veranstaltung Sigmar Gabriel
       öffentlich angekoffert hat. „Ich bin SPD-Mitglied und nicht mehr glücklich
       damit“, sagt sie jetzt. „Aufstehen“ sei hingegen „die absolut geilste
       Möglichkeit“, ruft Neumann strahlend von der Bühne. Der Saal jubelt.*
       
       Während Neumann spricht, hetzt Sahra Wagenknecht mit Verspätung in den
       Saal. Sie hat eine leidenschaftliche Rede mitgebracht über die Kälte in den
       Jobcentern, die Situation in den Krankenhäusern, die Krise der Demokratie.
       Keiner bleibt sitzen, alle Menschen im Saal sind aufgestanden. „Wir haben
       viel vor uns. Von uns wird man noch viel hören in diesem Land“, ruft
       Wagenknecht der jubelnden Menge entgegen.
       
       Vor der Bühne steht Steve Hudson, auch SPD-Mitglied, Teil der
       „No-GroKo“-Fraktion. Er filmt die Reden des Abends mit seinem Smartphone
       für die „Aufstehen“-Facebook-Seite. Von seiner Partei habe er sich noch
       nicht verabschiedet. Es sei bei der SPD wie bei einem Fußballverein. „Den
       verlässt man auch nicht so schnell. Stattdessen sehnt man sich lieber nach
       dem alten Glanz.“ Hudson hofft, „Aufstehen“ werde alle linken Parteien
       endlich aufrütteln. „Vielleicht sind wir ein Mittel zum Zweck.“
       
       *Wie [3][am Mittwoch bekannt wurde], ist Susanne Neumann inzwischen aus der
       SPD ausgetreten.
       
       5 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sahra-Wagenknecht-zu-unteilbar/!5542273
   DIR [2] /Linke-Sammelbewegung-trifft-sich/!5536589
   DIR [3] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-ex-putzfrau-susanne-neumann-tritt-aus-der-partei-aus-a-1242056.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Weyrosta
       
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