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       # taz.de -- Symposium im Mies van der Rohe Haus: Wie man sich bettet, so liegt man
       
       > Eigentlich wollte man ja gleich schweben, als man erst mal saß. Ein
       > Symposium ging der Frage nach dem Sitzen und Liegen in der Moderne nach.
       
   IMG Bild: Das Daybed im Farnsworth House
       
       Den Stuhl kennen wir seit es unsere Spezies gibt. Dass er benutzt werden
       darf ist allerdings neu. Erst mit der französischen Revolution fällt das
       Sitzprivileg und alle BürgerInnen dürfen sich auf vorhandene Stühle setzen.
       Das erläuterte der Kunsthistoriker und Philosophen Hajo Eickhoff einer – im
       Mies van der Rohe Haus in Alt Hohenschönhausen dicht gedrängt sitzenden –
       Zuhörerschaft.
       
       Dass sie an diesem Freitagnachmittag zum Symposiums „Mies – Sitzen und
       Liegen“ im Haus Lemke – wie das Mies van der Rohe Haus ursprünglich hieß –
       zusammengekommen war, hatte genau eben diesen Grund: Kaum ist der
       Einzelstuhl kein Thron mehr für Könige, Päpste oder andere Hervorgehobene
       der Gesellschaft, sondern ein Alltagsgegenstand, kommt man nicht umhin,
       sich Gedanken über ihn zu machen.
       
       Das geschah besonders in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten
       Weltkrieg. Denn der Stuhl wurde, wie Hajo Eickhoff sagt, überhaupt erst in
       den vergangenen hundert, wenn nicht erst fünfzig Jahren in Bezug auf
       Material, Form und Funktion entwickelt und differenziert.
       
       Welche Rolle spielte also der Stuhl, die Bank und die Liege bei einem
       herausragenden Architekten der Moderne wie Mies van der Rohe? Interessant,
       dass selbst bei ihm die erst allmähliche Bekanntschaft mit den Möbeln zum
       Sitzen und Liegen zu beobachten ist. So trat etwa sein heute so berühmtes
       und ikonisches Daybed von 1929 seinen Siegeszug erst nach dem Zweiten
       Weltkrieg an. Denn der Architekt entdeckte erst mit der Planung und dem Bau
       seines Farnsworth-House (1945-1951) das Potential dieses Möbels, indem er
       es frei in den Raum stellte.
       
       ## Die Liege als Raumskulptur
       
       Zum Genre des Sofas und der Couch gehörig, war das Daybed lange an der Wand
       platziert worden. Als Raumskulptur behandelt, konnte die breite flache
       Liege mit ihrem auffallenden abgesteppten Lederpolster plötzlich
       gesellschaftlichen Status kommunizieren. Freistehend wie die Skulptur, die
       Mies gerne für seine Interieurs vorsah, war das Daybed nun Ausdruck eines
       kultivierten Lebensstils wie Werner Möller, wissenschaftlicher Mitarbeiter
       der Stiftung Bauhaus Dessau ausführte.
       
       Er stand bei seinen Vortrag neben dem Daybed. Dahinter an der Wand
       betrachtete man eine große Fotografie von Sebastian Stumpf. Der Künstler
       wurde durch seine – von ihm selbst dokumentierten – Interventionen in die
       Architektur des öffentlichen und auch privaten Raums bekannt, etwa indem er
       sich unter schließenden Garagentoren durchrollte.
       
       Auf dem Foto liegt er jetzt nicht auf Mies’ Daybed, sondern im Wasserbecken
       vor einem großen Bürogebäude. Dass er aber auch still im Wohnraum des Haus
       Lemke saß und mit der Kamera die Ameisen, Fliegen und Spinnen beobachtete,
       die die dort zugange waren, gab seiner Ausstellung dort jetzt ihren Titel.
       
       Die Liege als Skulptur schlechthin war selbstverständlich die 1929
       entwickelte LC4 Chaiselongue von Le Corbusier. Der Schweizer Architekt
       weist seinen frei im Raum stehenden Stahlrohrsesseln, -stühlen und –hockern
       keinen exakten Raum zu. Sie sind bei ihm frei beweglich und können immer
       wieder neu im Raum verteilt werden.
       
       ## Möbel sind Kunstwerke
       
       Anders bei Mies van der Rohe wie Jan Maruhn, Kunsthistoriker und Leiter der
       Bildhauerwerkstatt des Berufsverbandes Bildender Künstler Berlin BBK,
       erläuterte. Mies weiß genau, wo seine Sitz- und Liegemöbel zu stehen haben
       und wie ein Bildhauer inszeniert er Einzelmöbel und Gruppen, so dass sie
       ihre größtmögliche Wirkung entfalten.
       
       Dass es sich bei seinen Möbeln um Kunstwerke und nicht um
       Gebrauchsgegenstände handelte, wurde Edith Farnsworth, der Bauherrin des
       Wochenendhauses auf dem Land, schnell klar. „Mies spricht vom offenen Raum,
       aber der Raum ist sehr festgelegt. Ich kann nicht einmal einen Kleiderbügel
       im Haus aufhängen, ohne mich zu fragen, wie das den Blick von außen
       verändert. … Jede Umstellung von Möbeln wird zum Problem“, beklagte sie
       sich und verklagte Mies wegen der enormen Baukosten und der
       „Unbewohnbarkeit“ des Hauses.
       
       Auch die Gäste der Churchs dürften in deren 1927-29 von Le Corbusier
       erbauten, großzügigen Villa, auf die eine oder andere Schwierigkeit
       gestoßen sein. Platz zum Sitzen dürften sie jedenfalls nur selten gefunden
       haben, so rar waren die Sitzgelegenheiten in den Räumen verstreut. Ähnlich
       wie Mies ging es Corbusier nicht ums Sitzen, sondern um das Ausstellen von
       Schönheit.
       
       Ansich wollten die Stahlrohrmöbel von Le Corbusier, Charlotte Perriand,
       Mies van der Rohe und zuvor schon von Mart Stam, Marcel Breuer oder Hand
       und Wassily Luckhardt schon das Sitzen revolutionieren, etwa indem man
       statt auf vier Bienen auf zwei Kufen schwebte.
       
       ## Der Blick auf die nackte Wand
       
       Tatsächlich aber revolutionierten sie den Raum. Als distinkte Form
       entwickelten die Stühle, Liegen und Sessel ein Eigenleben und gaben vor
       allem den Blick auf die nackte Wand frei. Um die Wandfläche möglichst wenig
       zu stören werden die Möbel niedrig gebaut. Im Barcelona-Sessel sitzend
       erlebt man alle Dinge im Raum auf Augenhöhe.
       
       Die Versuche den Menschen endlich mal gut oder wenigstens bequem
       hinzusetzen beginnen eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In den
       1950er und 60er Jahren denkt man erstmals über einen ergonomischen Stuhl
       nach. Den kann es aber gar nicht geben. Ergonomisch beim Sitzen ist nur
       aufzustehen und herum zu gehen. Warum also sitzt man überhaupt? Wo es die
       Menschheit doch die meist Zeit nicht getan hat?
       
       Das waren die weitergehenden, spannenden Fragen des 4. und letzten
       Symposiums zum Sitzen und Liegen. Jenen Tätigkeiten also, die die Leiterin
       des Mies van der Rohe Hauses Wita Noack zum Jahresthema 2018 erklärt hat,
       womit sie nebenbei schon eine kleine Overtüre zum 100jährigen Bauhaus
       Jubiläums 2019 startete. Der frisch gedruckte Band mit 22
       Symposions-Beiträge und drei Bildessays wurde am Abend vorgestellt.
       
       Obwohl nach Kant die Kinder in die Schule geschickt werden, damit sie erst
       einmal lernen still zu sitzen, lernten die Kinder lange Zeit am Stehpult.
       Dennoch braucht es den Stuhl im Bildungswesen, sind doch Stühle und Sitzen
       geeignet Ordnung und Disziplin zu schaffen, sagt Hajo Eickhoff. Denn der
       Stuhl dient der Besänftigung, lateinisch sedere, was auch sitzen heißt.
       Besänftigung und Beruhigung ermöglichen es dem Menschen Überblick zu
       gewinnen, Souveränität. Auch gegen die Affekte, die eine stehende
       Versammlung sehr leicht mobilisieren können.
       
       Die französischen Könige wussten das sehr gut, fällt einem dann beim
       Vortrag von Marie Luise Birkholz zum Alexanderplatz und dem Sitzen im
       öffentlichen Raum ein. Denn im Gegensatz zu den urbanen Wüsten Berlins,
       exemplarisch dafür der Alexanderplatz, überrascht Paris ständig mit den
       entzückendsten Plätzen auf denen man sich sofort mal für eine kleine
       Erholungspause hinsetzen will – und auch kann.
       
       3 Dec 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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