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       # taz.de -- Die Wahrheit: Das Fleischwunder von Pörksen
       
       > In Deutschlands einziger Engelmetzgerei geht es just zum Fest der Liebe
       > hoch her. Die Weihnachtsgeschichte der Wahrheit.
       
       „Kurz vor Weihnachten ist der Andrang besonders groß. Am Heiligen Abend da
       wollen die Menschen etwas Ausgefallenes auf ihrem Teller haben – und Zebra
       gibt es ja mittlerweile beim Discounter“, sagt Metzger Helmut Paulenz und
       wendet sich der nächsten Kundin zu. Die Dame hat vorbestellt und ist eigens
       in die niedersächsische Provinz gereist, um die Ware abzuholen. Denn
       ausgerechnet im gottverlassenen Dorf Pörksen in der Nähe der
       Schweinemastmetropole Vechta betreibt Helmut Paulenz mit seiner Gattin die
       einzige Engelmetzgerei Deutschlands.
       
       „Einmal fette Putte für sechs Personen, richtig?“, fragt Paulenz und
       verschwindet im Kühlhaus. Er kehrt mit einem gusseisernen Bräter zurück, in
       dem ein bezaubernd pausbäckiges Wesen mit lockigem Blondhaar auf einem Bett
       aus Thymianzweigen ruht – so lieblich und harmonisch proportioniert, als
       habe es Raffael selbst dort hingemalt. Fast könnte man annehmen, der
       stämmige Cherub habe sich bloß zu einem kurzen Nickerchen gelegt, fiele der
       Blick nicht auch auf die gerupften Stummelflügel und den Apfel, der im
       holden Mündlein steckt.
       
       „Wenn sie den schön mit Gold, Weihrauch und Myrrhe abschmecken, wird’s ein
       Eins-a-Bratengel“, rät Paulenz seiner Kundin. „Bratengel?“, fragt die
       verwundert nach. „Na ja, gibt ja auch Suppenengel. Zum Auskochen“,
       antwortet Paulenz ungerührt.
       
       Tatsächlich hängen im Kühlraum des Metzgers frisch gekeulte Himmelsboten
       aller Größen und Epochen an den Haken. Unter unserem eigenen Augenschein
       entdecken wir sehnige Exemplare mit langen Gliedmaßen, die einer
       mittelalterlichen Handschrift entsprungen scheinen, expressionistische
       Barlach-Engel mit strengem Odeur sowie feiste Ba-rockengel, wie man sie von
       den Lüftlmalereien oberbayerischer Kirchen kennt. „Lecker Mastengel“, nennt
       Paulenz sie und beklopft kennerisch die rosafarbenen Schwarten. „Eine
       ergiebige Fleischrasse.“
       
       ## Jubilieren bis tief in die Nacht
       
       Beklommen und spirituell erschüttert stehen wir vor den Karkassen. Unsere
       erste Begegnung mit dem Numinosen hatten wir uns erhebender vorgestellt,
       auch wittern wir erhebliche theologische Implikationen. „Darf man dem Herrn
       einfach so die Engel wegfressen?“, fragen wir bang. „Was soll man denn
       sonst machen?“, erwidert der Metzger. „Die sind ’ne echte Plage. Engel sind
       die wahren Ratten der Lüfte! Überall lassen sie Federn, wenn sie in der
       Mauser sind und dann das ständige Jubilieren bis tief in die Nacht.“
       
       Endlich führt uns Paulenz aus dem grässlichen Schlachthaus. In der
       Kühlvitrine im Verkaufsraum liegen Puttenschnitzel und scharf gewürzte
       Angel Wings, aber auch Filet- oder Lendenstücke, die zu „Ange au Vin“ oder
       „Engel Müllerin“ verarbeitet werden können. „Wollen Sie mal kosten?“, folgt
       die unvermeidliche Frage auf dem Fuße. Wir zieren uns ein wenig,
       schließlich haben wir uns bislang streng säkular ernährt, doch dann
       überwiegt die Neugier und wir greifen zu. „Und, wie schmeckt’s?“, fragt
       Paulenz erwartungsvoll.
       
       Vorsichtig kauen wir den Bissen, unsere Geschmacksknospen erfahren eine
       Ahnung höchster Vollkommenheit, die Lebendigkeit des Kosmos durchströmt uns
       heiß und innig, doch fehlen uns unglücklichen Sterblichen die Worte für das
       Unsagbare, das wir gerade sinnlich erfahren. „Ein bisschen wie Hühnchen“,
       behaupten wir deswegen. „Ist ja auch Geflügel, irgendwie“, bestätigt der
       Metzger.
       
       Wir spülen mit einem knüppelharten Schindanger Riesling aus Himmelpforten
       nach und sind bald wieder Herr unserer Sinne. Ob wir uns der Provenienz
       sowie der artgerechten Aufzucht der Engel vergewissern könnten, fragen wir
       investigativ nach.
       
       Paulenz zögert. „Ich weiß auch nicht so genau, wo die Viecher eigentlich
       herkommen. Als die Kinder aus dem Haus waren, hat meine Frau plötzlich mit
       Esoterik angefangen. Eigentlich wollte sie bloß ihren Schutzengel channeln,
       dabei muss sie irgendein Tor zum Elysium geöffnet haben. Jedenfalls purzeln
       die Engel seitdem dutzendweise in unser Wohnzimmer.“
       
       ## Reichlich gedeckte Kaffeetafel
       
       Kurze Zeit später lernen wir Helga Paulenz kennen, die als Medium den Namen
       „Antaris“ trägt. Auf den ersten Blick traut man der wuchtigen Metzgersfrau
       in der grob geblümten Kittelschürze keine besonders enge Verbindung zur
       feinstofflichen Welt zu, doch Antaris bittet uns gleich an der reichlich
       gedeckten Kaffeetafel zur Séance.Sie schließt die Augen und beginnt in
       Zungen zu reden, während ihr Mann schon mal das Bolzenschussgerät bereit
       macht. In Erwartung des Unvermeidlichen schließen auch wir die Augen, und
       so hören wir nur silbriges Rauschen, ein jubelndes „Hosianna!“ und
       schließlich ein fieses Knacken und einen dumpfen Aufprall. „Ein kapitaler
       Bursche!“, freut sich Paulenz. Wir verzichten darauf, dem waidgerechten
       Aufbrechen des prächtigen Erzengels beizuwohnen und verlassen die Pörksener
       Engelmetzgerei reichlich verstört.
       
       Hat Ehepaar Paulenz der Welt nun das Mirakel klimaneutraler
       Fleischproduktion beschert oder die Menschheit per Sakrileg ewiger
       Verdammnis überantwortet? Wir wissen es nicht. Auch die Fachwelt reagiert
       ratlos. Das Waidrecht kennt nur die Enten-, aber nicht die Engeljagd, und
       der Vatikan weigert sich beharrlich, die himmlische Speisung von Pörksen
       als Eucharistiewunder anzuerkennen. Angeblich wegen gravierender
       Verfahrensfehler.
       
       24 Dec 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
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