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       # taz.de -- Aufwachsen im Hafenlicht: Hoffnungslos verstrahlt
       
       > Was hätte aus uns werden können, wenn wir nur den Sternenhimmel gesehen
       > hätten? Entdecker! Eroberer! Doch wir studierten Kulturwissenschaft und
       > wurden nutzlos.
       
   IMG Bild: Schlimmer geht immer: So was ähnliches wie Abendstimmung bei der „Sail 2015“
       
       Für diesen Beitrag zog ich mich wie immer mit einer Kiste Chianti in den
       halbtrockenen Keller unserer Wohnung zurück, dort, im leichten Modergeruch,
       kommen mir meist die besten Ideen. So ging es Schiller ja auch mit den
       verwesenden Äpfeln in seiner Weimarer Schreibtischschublade, deren Geruch
       Goethe immer an eine tote Ratte erinnerte.
       
       Dort unten lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und starrte an die dunkle
       Decke. Von außen fiel das orangene Licht einer alten Straßenlaterne hinein
       und warf einen schalen Schein. Ich musste schon eine Weile im Dunkel des
       kühlen, nassen Kellers sinniert haben, als mir auffiel, dass so der Himmel
       meiner Kindheit ausgehen hat: Dunkel und irgendwie verschliert, auf dem
       feuchten Grau ein fahler, orangener Schein.
       
       Das Dunkel-Nasskalte kam von den Quellwolken, die der Wind vom Meer ohne
       Unterlass über die Norddeutsche Tiefebene wälzte, der orangene Schein von
       den Lampen des Hafens. Dieser sei einer der größten Europas, wurde uns
       immer zu gesagt. Tausende Autos würden hier umgesetzt. Ab und zu kam auch
       mal ein Kreuzfahrschiff vorbei. Viel Personal brauchte es für beides
       anscheinend nicht. Die Werften hatten bereits geschlossen, die
       Windkraft-Wende war noch fern, bei Werder Bremen war „Dixie“ Dörner
       Trainer, die Lage war desolat.
       
       Und wir Kinder Bremerhavens sahen zum Himmel empor und sahen nicht mehr als
       eine pürierte Graupensuppe, nichts, das uns Orientierung geben oder das
       matte Glimmen in unserem Innersten zu einem Lodern hätte aufbauschen
       können. Im Angesicht der Weite des Universums, der Unendlichkeit des Alls,
       wurden die alten Ägypter und Griechen, die Römer und selbst noch die
       verrückten Jakobiner in Paris erfüllt mit einem fast schon fanatischen
       Pathos und missionarischem Schaffensdrang. Wir fühlten nichts dergleichen,
       wir waren betäubt von Bier.
       
       Es ist doch so, dass der Sternenhimmel einem Quecksilber überzogenem Grabe
       gleicht, einem Abglanz des Todes. So lange braucht es, bis das Licht uns
       erreicht, dass die Sterne, die es aussendeten, längst verglüht sind, sich
       aufgeplustert haben zu Supernovas, zerfallen sind zu schwarzen Löchern und
       weißen Zwergen. Im Angesicht dieses ewigen Vergehens nun könnte man etwas
       Größeres erahnen, das Jenseits vielleicht, Formen und Muster, die
       Anwesenheit einer höheren Gewalt. Wir standen gekrümmt an der Mauer des
       Tiergrotten und übergaben uns von zu viel Bier.
       
       Was hätte aus uns werden können, Entdecker!, Eroberer!, doch wir studierten
       Kulturwissenschaft und wurden nutzlos. Wie hätte unser Leben aussehen
       können, wenn wir nur den Sternenhimmel gesehen hätten? Einer
       intellektuellen Supernova gleich hätten wir zurückgestrahlt, so dass
       Fremdes Leben auf fernen Planeten uns hätte verglühen sehen und angezogen
       davon sich auf den Weg zur Erde gemacht hätte. Aber niemand kam vorbei von
       outer space, niemand interessierte sich für uns Erdenbürger. Manchmal denke
       ich, das lag an uns, den Bremerhavenern, welche verdeckt unter von
       orangenem Hafenlicht schwach erhellten Quellwolken, die immer weiter zogen,
       dem Nirgendwo entgegen und dort abregneten, Bier tranken anstatt zu
       scheinen.
       
       Neulich saß ich nachts, nun alt und gebrochen, auf dem Hof eines kleines
       Anwesens in Brandenburg. Die Wärme, die die alten Backsteinmauern tagsüber
       aufgesogen hatten, gaben sie zurück wie eine auf Anschlag aufgedrehte
       Heizdecke. Ich trank ein Glas Wein, ich blickte kurz hinauf zum Himmel und
       war geblendet. Ein milchiger Schimmer zog sich über das gewölbte Rund. Eine
       Kindheitserinnerung drang hervor aus den tiefsten Tiefen meiner Seele.
       
       Ich sah mich als kleiner Junge im Bett liegen, neben mir saß meine Oma, mit
       ihrer eigentümlich hellen und doch charaktervollen Stimme sang sie mir ein
       Lied: „Weißt du, wie viel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt,
       weißt du, wie viel Wolken gehen, weit hinüber alle Welt.“ Das mit den
       Wolken, das wusste ich ja, das mit den Sternen nicht. Dort standen sie nun,
       im Brandenburger Sternenpark. Ich schaute zu ihnen hinauf und sie zu mir
       hinunter.
       
       Ich sah die Achse des Großen Wagens, wie er durch diesen glimmenden Acker
       zog, ich imaginierte mich in die fernsten Weiten der Galaxis, noch weit
       hinter die Ortsche Wolke, zum Arktur im Sternbild des Bärenhüter und zur
       Capella im Fuhrmann. Ich sah, was unsere Ahnen vor Äonen gesehen, wonach
       sie navigiert hatten, zum Stammsitz ihrer Götter hinauf und weinte. „Weißt
       du, wie viel Sternlein stehen“ summte ich. Und es waren Zehntausende, sie
       alle zählte ich, sie alle vermaß ich, ihnen allen gab ich einen neuen
       Namen.
       
       Am nächsten Morgen wachte ich mit einer drückenden Migräne und einem
       trockenen Geschmack im Mund auf. Der Wein, der halbtrockene Wein. Ich ging
       zum Fenster und sah einen wolkenlosen Himmel, so wolkenlos, wie ich ihn
       noch nie gesehen hatte. Dahinter, dachte ich, da müssen sie leuchten, die
       Sterne. Wahrscheinlich waren sie grad nur schlafen gegangen.
       
       27 Dec 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ruben Donsbach
       
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