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       # taz.de -- Die Wahrheit: Auf einem grünen Zweigle …
       
       > Kurz vor Weihnachten starb der Dichter und Zeichner F. W. Bernstein. Ihm
       > zu Ehren haben die Wahrheit-Autoren gedichtet und gezeichnet (I).
       
       ## Der Handlanger
       
       Im Oktober 1993, als ich mich soeben der Frankfurter Titanic-Redaktion
       angeschlossen hatte, schrieb Fritz Weigle mir: „Ich hoff’, Sie kommen
       zurecht in der Redaktion. (Und wenn Sie in den Winkel mit den vielen
       Spinnweben kommen: Da werden die Bernstein-Cartoons gebunkert – wenn mal
       grad keiner guckt, könnten Sie ja mal heimlich das eine oder andere Blatt
       ins Heft schmuggeln …)“
       
       So wurde ich als Fritz Weigles persönlicher Handlanger tätig. Mehr Erfolg
       hatte ich allerdings dabei, seine Zeichnungen in meine eigenen Bücher zu
       schmuggeln. Oder schön gerahmt an meine Wohnungswände, denn er war auch ein
       großer Versender illustrierter Postkarten. Drei meiner Lieblingsexemplare
       tragen die Titel „Karajan, aber nackig“, „1 Glas St. Magdalener aus
       Südtirol“ und „Neues vom Auto: Es rinnt und es brennt!“
       
       Im Laufe der Jahre habe ich bei Freunden und Bekannten viele andere
       Wohnungswände erblickt, die mit Postkarten von F. W. Bernstein übersät
       sind. Und nun sollte sich am besten jemand mit genügend Tagesfreizeit Fritz
       Weigles Adressverzeichnis besorgen und ein Jahr lang durch die
       Weltgeschichte reisen, um alle diese Karten aufzuspüren und uns bald darauf
       mit einer lückenlosen und vermutlich zwanzig- bis dreißigbändigen Edition
       zu beglücken. Wer wagt’s? Gerhard Henschel
       
       ## Zu Fritz nach Steglitz
       
       Die meisten Menschen sammeln irgend etwas. Ich auch, und zwar Bücher. Aber
       nicht irgendwelche Bücher, sondern solche, bei denen F. W. Bernstein seine
       Finger im Spiel hatte. Und das sind viele, denn er war nicht nur genial in
       Wort und Bild, sondern auch sehr fleißig.
       
       Bei meinen Berlin-Besuchen machte ich meist einen Abstecher nach Steglitz
       zu Sabine und Fritz, im Gepäck die neuesten Werke sowie antiquarisch
       erstandene Bücher vom Meister. Er war sehr geduldig und signierte alles.
       Einmal machte er einen Fehler: Seine Wohnung war vollgestopft mit Büchern.
       Im Flur, im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer stapelten sie sich bis unter die
       Decke. Ob ich nicht mal nachschauen wolle, ob mir noch ein paar seiner
       Bücher fehlen, fragte er, damit er wieder etwas Platz auf den Regalen habe.
       Das bereute er umgehend. Ich fand achtzehn Bücher, die er nun ebenfalls
       signieren musste. Mit der Zeit kamen weit über 150 Stück zusammen. „Ich
       muss mich gar nicht um meinen Nachlass kümmern“, sagte er einmal. „Du hast
       ja alles.“ Ach Fritz, die Sache mit dem Nachlass hätte noch Zeit gehabt. Du
       fehlst uns. Ralf Sotscheck
       
       ## Komik des Kleinen
       
       Ich treffe Fritz jeden Tag. An den Wänden meines Heims hängen, gerahmt,
       viele Originalzeichnungen von ihm, die er mir geschenkt und geschickt hat,
       bemalte Postkarten („Der Werkstattadler“, „Salonspatz“, „Schafsnase“,
       „Halbapfel“) zum Beispiel, riesige Miniaturmirakel sind sie, oder ein
       Tresenimpressionsblatt in Schwarz-Weiß: „Der Zapfer ist tapfer, / doch der
       Trinker ist flinker.“ Sie quasseln über Baselitz, / In Steglitz sitzt der
       Fritz. / Er sagt sich: Kunst? Ach! Aberwitz! / Und zeichnet quick ein Kitz.
       
       Fritz, der Wirklichkeitsliebhaber und Wanderer durch Wuseleien, mochte die
       kleinen Leute und verlachte die Schwer- und Schwallköpfe, die
       Bedeutungsblasen und Sinnblähungen des Betriebs. Er war ein Bruder Jean
       Pauls – jemand, den zum Freund haben zu dürfen ein großes Weltglück war.
       
       Ich hatte einige Male die Ehre, auf Fritz eine Laudatio zu halten. Im
       Frankfurter Ostpark war 2008, aus Anlass der Einweihung der
       Elfmeterpunktskulptur, der legendäre Zeugwart der Eintracht zugegen, Toni
       Hübler. Diesen sich am Rande des Realitätsgetöses wegduckenden
       unscheinbaren Mann hatte Fritz, der pazifistische Anarchist, ins Herz
       geschlossen. Immer wieder kam er in Briefen auf ihn zu sprechen.
       
       Am vorigen Freitag ging ich in meine Stammkneipe, um auf Fritz siebzehn
       Bier zu trinken („Obazahlnischkannnnnischmehr!“ / „Das waren siebzehn Bier,
       der Herr!“). Ich hatte mein Feuerzeug vergessen. Wirtin Sia fischte eins
       aus einer Schublade und schenkte es mir. Auf dem steht: „Fritz Keusch –
       Schrott-& Metallhandel“. Kein Witz. Fritz hätte es gefallen. Jürgen Roth
       
       ## Die Bewundererin
       
       Buchmesse in den Neunzigern, Haffmans-Stand. Eine Besucherin stürzte auf F.
       W. Bernstein zu: „Ich bewundere Ihre Arbeit, Herr Gernhardt!“ Fritz
       lächelte freundlich und stumm, aber ich platzte gleich ungeschickt
       dazwischen: „Das ist nicht Robert Gernhardt!“ Besucherin: „Oh,
       Entschuldigung, Herr Waechter!“ Fritz lächelte immer noch freundlich und
       hielt mich von weiterem Wichtigkeitsgetue ab, während die Frau zufrieden
       von dannen zog. „Es war doch gut gemeint“, sagte er.
       
       Eitelkeit und Herumgefuchtel lagen ihm nicht, Höflichkeit und Großzügigkeit
       dagegen sehr. Freundschaft gelang ihm auch über Distanzen. Immer war man
       angenommen. Ach Fritz, du fehlst. Susanne Fischer
       
       ## Goethes größter Sohn
       
       „Wenn der uns jetzt gegen die Wand fährt, dann habt ihr ein Problem.“ Diese
       weisen Worte sprach der große F. W. Bernstein im Jahre des Herrn 2011 zu
       den Veranstaltern der ersten „Goethes-schönste-Söhne-Tournee“ in Münster,
       nachdem diese die fünf führenden Dichter Deutschlands – ach was, der ganzen
       Welt – in ein Großraumtaxi verfrachtet hatten, das sie zum Ort der
       legendärsten Dichterlesung aller Zeiten kutschieren sollte.
       
       Das waren sonnige Zeiten, als der geliebte Altmeister dann am Abend der
       Lesung den penibel nach ungefähr 40.000 Absprachen und einem jahrelangen
       E-Mail-Verkehr vereinbarten Ablauf kurzerhand komplett umwarf, seine
       eigenen Ideen umsetzte und damit die Veranstaltung in Münster zu einem
       unvergesslich fröhlichen Ereignis machte. Man darf gar nicht daran denken,
       sonst fließen gleich wieder die Tränen. Dieser großherzige und
       schnauzbärtige Mann fehlt einfach in der Welt. Sein Werk ist zum Glück
       geblieben! Corinna Stegemann
       
       ## Scheitern am Akt
       
       Bei aller Sanftheit im Gespräch – er konnte sehr scharf urteilen: über das
       „Arschloch“ (Baselitz) oder den „Scheiß“ (Ungerers Liederbuch). Weil er das
       Zeichnen so ernst genommen hat, dass er bei der Komik landete. Handwerk,
       wie die alten Meister es draufhatten – erzählte er –, das hat Gernhardt und
       mich interessiert. Doch an der Stuttgarter Akademie in den Sechzigern hat
       es keine Rolle gespielt. Nun haben wir Komikleute kennengelernt, und siehe:
       Da hat’s gegeben, was wir gesucht haben: Arbeit an den technischen
       Fertigkeiten. Und im Aktzeichnen-Kurs an der HdK, was macht ihr da? Hab ich
       mal gefragt. „Wir scheitern. So, wie beim Aktzeichnen alle, zu allen
       Zeiten, gescheitert sind.“ Martin Betz
       
       ## Der Geburtstag
       
       Der siebzigste Geburtstag von F. W. Bernstein vor zehn Jahren war viel
       lustiger als der 70. Geburtstag von Loriot und lief auch nicht im
       Fernsehen, sondern in Berlin-Friedenau. Dabei handelte es sich um ein
       gepflegtes Beisammensein in einem gepflegten Ecklokal.
       
       Aus allen Himmelsrichtungen kamen immer mehr gute Bekannte, immer
       beschwingter wurde es und schließlich passierte etwas gar Wunderbares.
       Bernstein schnappte sich seine Gattin und legte eine Sohle aufs Parkett,
       die einen an den Grass’schen Walzer gemahnte. Nämlich just jenen, als der
       deutsche Großliterat zu Ehren seines Nobelpreises 1999 das Bein schwang.
       Mit dem Unterschied, dass Bernstein wesentlich lustiger tanzte als Grass –
       und leider zu Lebzeiten nie einen Nobelpreis erhalten hat. Deshalb verleiht
       die Wahrheit posthum und in großer Dankbarkeit den ersten und letzten
       Nobelpreis für komische Zeichnung an: F. W. Bernstein. Harriet Wolff
       
       27 Dec 2018
       
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