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       # taz.de -- Britische Atomanlagen nach dem Brexit: Wem gehört das Plutonium?
       
       > Bislang sind zum Brexit noch fast alle Fragen offen. Auch die nach der
       > Verantwortung für die Nuklaranlagen in Großbritannien.
       
   IMG Bild: Sprengung zweier Kühltürme in Sellafield 2007
       
       Der britische Handelsminister Liam Fox hat vor einer Abkehr vom Brexit
       gewarnt. Das sagte Fox in einem Interview mit der Sunday Times. Sollte das
       Parlament das [1][mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen] ablehnen,
       stünden die Chancen 50 zu 50, dass der Brexit nicht stattfinde. Die
       Botschaft des Handelsministers richtet sich vor allem an Brexit-Hardliner
       im britischen Parlament. Sie lehnen das Abkommen von Premierministerin
       Theresa May ab, weil ihnen der darin vorgesehene Bruch mit Brüssel nicht
       deutlich genug ist.
       
       Ebenfalls noch undeutlich ist, was im Falle eines Brexit aus den britischen
       Atomanlagen wird. Am 17. Oktober 1956 hat die Queen das erste voll
       funktionsfähige Atomkraftwerk der Welt eröffnet: Calder Hall in Cumbria,
       das 2003 abgeschaltet wurde. Die Ruine gehört heute zur [2][Atomanlage
       Sellafield], wo mehr als 10.000 Menschen arbeiten. Insgesamt sind in
       Großbritannien 65.000 Menschen in der Atomindustrie beschäftigt.
       
       In Sellafield lagert genügend Plutonium für 20.000 Atombomben. Das Material
       unterliegt der Aufsicht von Euratom, das 1957 durch die Römischen Verträge
       von Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und der Bundesrepublik
       Deutschland gegründet wurde. Großbritannien kam mit dem Beitritt zur
       Europäischen Gemeinschaft 1973 hinzu. Seitdem sind Euratom-Inspektoren
       ständig in Sellafield stationiert, der Organisation gehören Kameras, Siegel
       und Testlaboratorien.
       
       Wem aber gehört das Plutonium? Diese Frage wird nach dem Brexit akut, denn
       Großbritannien verlässt dann gleichzeitig Euratom. Es untersteht nämlich
       dem Europäischen Gerichtshof, und das sei nicht vereinbar mit dem Ziel,
       durch den Brexit „die Kontrolle zurückzugewinnen“, sagte Premierministerin
       Theresa May. Das Londoner Oberhaus hat vergeblich versucht, [3][den
       Verbleib in Euratom] zu erzwingen. Allerdings will May, dass Großbritannien
       weiterhin dem Forschungsbereich von Euratom angehört, und ist auch bereit,
       dafür zu zahlen. Dieser Bereich, so meint sie, sei nicht vom Europäischen
       Gerichtshof geregelt.
       
       ## „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“
       
       Großbritannien und die EU müssen sich nach dem Brexit einigen, ob es sich
       bei dem Plutonium um einen Vermögenswert oder um eine Belastung handelt,
       wenn man bedenkt, dass es rund 80 Millionen Pfund im Jahr kostet, das Zeug
       zu lagern und zu sichern. Ein Fünftel stammt aus der Wiederaufbereitung von
       Atommüll aus Deutschland, Schweden, Frankreich und den Niederlanden.
       
       [4][Euratom ist ein merkwürdiges Gebilde]. Seit 1957 hat sich an dem
       Euratom-Vertrag praktisch nichts geändert. Vorrangiges Ziel ist immer noch
       die „Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie“. Das erscheint heutzutage
       anachronistisch, denn von der damaligen Euphorie über die Atomkraft, die
       sogar in der Küche eingesetzt werden sollte, ist nichts mehr übrig. Dennoch
       befürchten Atomkraftgegner, dass mit dem britischen Ausstieg aus Euratom
       die Sicherheitsstandards unterlaufen werden könnten.
       
       Das Ministerium für Unternehmen, Energie und industrielle Strategie in
       London behauptet dagegen, dass „sämtliche internationalen Vereinbarungen
       vor dem Rückzug aus Euroatom unter Dach und Fach“ sein werden. „Diese neuen
       Vereinbarungen garantieren die ununterbrochene Kooperation und den Handel
       im nuklearen Sektor nach unserem Ausscheiden aus Euratom“, heißt es in
       einer Erklärung.
       
       Das Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, wonach das bereits bestehende
       Office for Nuclear Regulation die Sicherheitskontrollen übernehmen soll,
       für die bisher Euratom zuständig ist. Außerdem hat man mit der
       International Atomic Energy Agency im Juni einen ersten Vertrag über
       Zusammenarbeit unterzeichnet, aber das ist erst der Anfang. Bis zum Brexit
       müssen noch zahlreiche Punkte geklärt werden.
       
       ## Zahlreiche Unfällen in Sellafield
       
       In Irland beobachtet man den britischen Austritt aus Euratom besonders
       argwöhnisch, liegt Sellafield doch praktisch vor der Haustür. Bei den
       zahlreichen Unfällen in der Atomanlage wurde die irische Ostküste stets in
       Mitleidenschaft gezogen, aber die Klage vor den Vereinten Nationen blieb
       erfolglos. Darüber hinaus urteilte der Europäische Gerichtshof 2006, dass
       Irlands Vorgehen illegal gewesen sei, weil die UN-Klage die Autonomie des
       EU-Rechtssystems untergraben habe. Nach dem Brexit kann Irland aber auch
       vor dem Europäischen Gerichtshof nicht mehr gegen Sellafield vorgehen.
       
       Unterdessen bucht die britische Regierung in Vorbereitung auf einen
       ungeregelten Brexit vorsorglich Fähren für umgerechnet mehr als 120
       Millionen Euro. Damit soll die Versorgung des Landes gesichert werden, wenn
       wegen neu eingeführter Grenzkontrollen der Verkehr zwischen der Insel und
       der EU ins Stocken gerät.
       
       Die zusätzlich gemieteten Schiffe sollten Häfen in Südengland wie
       Portsmouth, Poole oder Plymouth anlaufen, teilte das Verkehrsministerium am
       Wochenende mit. Es handle sich um eine Notfallmaßnahme. „Auch wenn wir
       weiterhin daran arbeiten, dass es zu einem Austrittsabkommen kommt,
       bereiten wir uns auf alle Szenarien vor.“
       
       Derzeit verkehren täglich rund 16.000 Lkws zwischen dem französischen
       Calais und Dover in Südengland. Sie transportieren etwa Lebensmittel,
       Medikamente oder Industriegüter. Sollten nach dem EU-Austritt in drei
       Monaten Grenzkontrollen eingeführt werden, wird mit langen Staus auf beiden
       Seiten des Ärmelkanals gerechnet.
       
       31 Dec 2018
       
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