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       # taz.de -- Michael Kleebergs neuer Roman: Die Sünde der Anverwandlung
       
       > Gegen Identität, für Utopie: „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ ist das
       > Hohelied jener, die sich weltlichen Hierarchien entziehen.
       
   IMG Bild: Sehnsuchtsort der Deutschen? Straßenszene im vom Krieg zerstörten Beirut, 1985
       
       „Der Orient ist längst hier bei uns.“ So spricht der Erzähler, der zu
       Beginn von Michael Kleebergs Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ aus der
       utopischen Küche Bernhards und Ullas im kleinen Ort Mühlheim bei Frankfurt
       berichtet. Dort sitzen Einheimische und Zugewanderte aus der Pfalz, die
       Hääschdener Dialekt sprechen, mit Menschen aus Polen, aus dem Libanon und
       dem Iran und erzählen sich ihre Lebensgeschichten. Hier wird die
       Freundschaft gefeiert und den Künsten gehuldigt.
       
       Der Orient, sinniert der Erzähler weiter, „fliegt mit MEA und mit Lufthansa
       und Turkish, er studiert Hegel in Heidelberg, Strömungsmechanik an der TU
       und Heidegger in Paris, und die Gäste, die hier sitzen und dem Madschnun
       lauschen, wie er voll inniger Trauer und Glück von Claptons Layla singt,
       sie kommen aus den salzigen und sandigen, winddurchfegten Gassen von Tyrus
       und dem kalten Zimmer mit dem Kohleofen im sechsten Stock einer
       Mietskaserne von Offenbach.“
       
       Der Orient, er war schon vor dem Sommer 2015 da, will uns der Erzähler
       sagen. Er ist Teil unseres Lebens, Teil unserer Gesellschaft. Er tritt uns
       täglich in Gestalt von Kolleginnen und Freunden, Ärztinnen und
       Gemüsehändlern, Klimaexperten und Sängerinnen gegenüber. Wir wissen das ja
       alle selbst. Aber wenn wir über den Orient, über das ganz Andere, Fremde
       sprechen, vergessen wir oft, was wir täglich erleben. Der Orient ist uns
       heute so nah, dass er kein Orient mehr ist.
       
       Für Goethe war der Orient weit weg. Ein Ort, von dem „so manches Große,
       Schöne und Gute seit Jahrtausenden zu uns gelangte, woher täglich mehr zu
       hoffen ist“. Goethe liebte die großen Dichter aus Persien, besonders Hafis.
       Ein ganzer Band der Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe seiner gesammelten
       Werke ist den Übersetzungen und Bearbeitungen fremder Dichtungen gewidmet.
       Darin findet sich auch der „West-östliche Divan“, dessen Bücher mit
       persischen Überschriften versehen sind.
       
       ## „Ei! Wach uff und guck! Die Welt ist aus den Fugen!“
       
       Die ersten zwei Zeilen in Goethes Divan lauten: „Nord und West und Süd
       zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern.“ Könnte auch heute
       geschrieben worden sein. Am Anfang von Kleebergs Roman, der laut Untertitel
       auch „ein Divan“ ist, heißt es: „Ei! Wach uff und guck! Die Welt ist aus
       den Fugen! Blutrot geht die Sonne im Abend auf. Der Orient zersplittert.“
       
       So ist der Rahmen gesetzt für einen großen Wurf. Michael Kleebergs Roman,
       bei Galiani erschienen (464 Seiten, 24 Euro), erzählt uns von der Liebe
       zwischen Ost und West in all ihren Formen, von geteilten kulturellen
       Quellen und ähnlichen Erfahrungen.
       
       Da wird vom Elend deutscher Auswanderer nach Amerika berichtet und parallel
       von der Flucht einer syrischen Familie vor den Fassbomben Assads erzählt.
       Da kommen die jungen Dschihadistinnen zu Wort, die ihren Schwestern davon
       berichten, wie groß und hingebungsvoll ihr Leben an der Seite der Heiligen
       Krieger des Islamischen Staats ist, denen sie mit Freude dienen.
       
       Das erste Buch des Goethe’schen Divans heißt „Moganni Nameh“, das ist das
       Buch des Sängers. Auch das erste von zwölf Büchern in Kleebergs Roman, der
       sich die Struktur des Goethe-Divans zu eigen macht, heißt so. Das „Buch des
       Sängers“ ist das Buch des Autors Kleeberg, der sich rigoros gegen das
       Phantasma der Identität richtet. Sie ist es ja, auf die sich nicht nur der
       aggressive, schlecht gelaunte, am Abendland in Wirklichkeit ganz
       uninteressierte Chor der Verächter unserer widersprüchlichen Gegenwart
       ständig mit Tremolo in der Stimme beruft.
       
       ## Ein spezifisch deutsches Faible für den Orient
       
       „Aus irgendeiner Heimat sind wir alle hierhergekommen“, antwortet diesem
       Chor mit Blick auf die Exilanten in der Mühlheimer Küche der Sänger, „und
       Heimat ist’s immer, was wir suchen. Und was nehmen wir mit? Unsere
       Identität? Ich weiß nicht, denn mit ihr reisen immer auch Mord, Tod und
       Elend, mehr oder weniger subtil, mehr oder weniger gedanklich verbrämt,
       aber immer gerechtfertigt durch sie, durch Identität.“
       
       Diese radikale antiidenttitäre Haltung Kleebergs prägt die Perspektive
       seines Romans. Sie macht ihn trotz romantisierender Schwächen zu einem
       wichtigen, großen Roman. Kleebergs Buch spiegelt an manchen Stellen das
       spezifisch deutsche Faible für den Orient, das sich mit den Goethes und
       Humboldts schmückt, aber gar nicht merkt, wie sehr auch das
       imperialistische Orientbild des zweiten und das antiimperialistische
       Orientbild des dritten deutschen Reichs noch heute den Blick der Experten
       trübt.
       
       Als Michael Kleeberg sein Buch der Presse vorstellte, erzählte er, wie eine
       USA-kritische Passage, die er in Teheran vorlas, dort nicht gut ankam. Zu
       sehr erinnerte das die Zuhörer vielleicht an die Klischees vom kleinen und
       vom großen Satan.
       
       ## In der Utopieküche
       
       „Ja, lasst uns Identitäten zertrümmern“, finden auch die empfindsamen und
       klugen Leute in Bernhards Küche, die wohl Kleebergs Idealküche ist. Sie
       heißen Zygmunt, Bernhard, Maryam, Ulla, Bernhard, Younes, Kadmos. Auch sie
       glauben, dass Identität die Feindin der Erfahrung, der Begegnung und des
       Austauschs ist. „Wir wollen, solange wir hier zusammen sind, die Sünde der
       Liebe begehen, der Anverwandlung, auch wenn wir so nicht zu irgendwelchen
       Schlüssen gelangen werden. Dieser Preis ist zu entrichten, diese Schuld zu
       begleichen, der Lohn ist das Geheimnis.“
       
       Goethe schreibt in seinem Divan: „Wo kluge Leute zusammenkommen, da wird
       erst Weisheit wahrgenommen.“ In der Utopieküche sind sie nicht in erster
       Linie auf Weisheit aus. Das ist einerseits ihr Problem, das macht die Leute
       andererseits auch so sympathisch. Dass Schlüsse ausdrücklich nicht gezogen
       werden sollen, ist allerdings ein Trick des Autors, dessen Haltungen zur
       Welt hin und wieder doch recht deutlich in den Erzählungen seiner Helden
       aufscheinen.
       
       Für Kleeberg ist dieser Roman die Summe einer fünfzehn Jahre dauernden
       Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Vielstimmigkeit seiner Erzählung
       ermöglicht es ihm, sich der Komplexität der Welt und unserer Gegenwart
       anzunähern.
       
       Kleeberg ist ein hochintelligenter Erzähler, der virtuos mit dem Umstand
       spielt, dass die Literatur nicht anders kann, als sich Texte und
       Sprechweisen einzuverleiben. Er tut das mit offensichtlichem Vergnügen, mit
       Ernst und Ironie und großer Kunstfertigkeit. Auch damit macht er deutlich,
       dass es Kultur ohne Aneignung nicht geben kann.
       
       ## Ein orientalisches Lied, das wie ein Walzer klingt
       
       Am schönsten illustriert das im Roman die Geschichte eines beliebten
       persischen Lieds. „Djomebasar“, der Freitagsmarkt, heißt es und erzählt von
       einem Mädchen und einem Jungen, „die dort jeden Freitag hingehen in der
       Hoffnung, sich zu begegnen. Aber wenn sie einander dann sehen, sind sie zu
       schüchtern, miteinander zu reden.“ Das Lied klingt wie ein Walzer ,“oder
       eher noch wie ein Ländler“ und es „hört sich überhaupt nicht orientalisch
       an“. Das hat seinen Grund.
       
       Der iranische Komponist des Lieds, Tiroli Jan, hat es wohl in dem deutschen
       Heimatfilm „Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt“ entdeckt, „wo die
       jungen Männer und Frauen alle so schick amerikanisch aussehen, dass du dir
       beim besten Willen nicht vorstellen kannst, was für Uniformen sie keine
       zehn Jahre vorher getragen haben“. Das Stück ist allerdings viel älter,
       lernen wir, man kann es auf einer Aufnahme des Paul-Godwin-Tanzorchesters
       aus Berlin von 1932/33 hören.
       
       Paul Godwin hieß in Wirklichkeit Pinchas Goldfein, und auch der Name des
       Komponisten, Mart Fryberg, war ein Pseudonym, das sich Martin Friedeberg
       gegeben hatte. „Das heißt, unser Tiroli Jan hat nicht deutsche
       Heimatfilmmusik arrangiert, sondern den verswingten Walzer eines jüdischen
       Komponisten und eines jüdischen Bandleaders.“
       
       Eine andere Geschichte aus der Mühlheimer Küche handelt von der Liebe
       dreier deutscher Frauen, die mit ihren arabischen Männern im Libanon leben
       und mit fremden Sitten und dem Bürgerkrieg klarkommen müssen: Im „Buch der
       drei Lieben“ wird, mit Blick auf die alten Mythen der Region, die auch die
       unseren sind (etwa die von El, dem starken Stier, der die Erde schuf),
       gefragt: „Warum beginnt alles, alle Ordnung, mit einem Mord?“
       
       ## Hermanns Stimme ist am wichtigsten
       
       Im „Buch des Idioten“ wird konsequenterweise das Hohelied jener gesungen,
       die sich den weltlichen Hierarchien und der Herrschaft der Orthodoxie
       gleichermaßen entziehen. Das Buch des Idioten erzählt die Geschichte
       Hermanns, und wenn wir auf den Titel von Kleebergs Roman schauen, der auf
       Dostojewskis Figur des Idioten, des heiligen Narren, anspielt, ist Hermanns
       Stimme wohl diejenige, die Kleeberg im Gespräch der antiautoritären Freunde
       in der utopischen Küche am wichtigsten ist.
       
       Hermann erscheint, wie oben bereits angedeutet, zugleich als Wiedergänger
       des Madschnun, der in der altpersischen Dichtung Nezamis über die
       unglückliche Liebe von „Leila und Madschnun“ seinen ersten Auftritt hatte.
       Der ehemalige Doktorand und lange verschollene Aussteiger Hermann hat seine
       Jugendliebe, die iranische Sängerin Maryam, vor Jahrzehnten verloren und
       dann gegen jede Wahrscheinlichkeit wiedergefunden.
       
       Durch Maryam entdeckte Hermann die Gedichte von Hafis und damit die Ideen
       der Sufis. An Hafis fasziniert Hermann, dass der Dichter „willentlich
       Verhaltensweisen an den Tag legte, die öffentliche Missbilligung nach sich
       zogen, nur um die Reinheit des inneren Antlitzes zu verbergen“. Hermann
       folgt hier Goethe, der reimte: „Hafis’ Dichterzüge, sie bezeichnen /
       Ausgemachte Wahrheit unauslöschlich; / Aber hie und da auch Kleinigkeiten /
       Außerhalb der Grenze des Gesetzes.“
       
       ## Eine Feier der Freundschaft, der Liebe und der Utopie
       
       Dabei geht Hermann in deutscher Tradition dem alten Missverständnis auf den
       Leim, bei den Mystikern in Ost und West, Letztere repräsentiert unter
       anderem von Meister Eckhart, handele es sich um entrückte Gottesschauer, um
       Individualanarchisten. In Wahrheit waren sie Philosophen, Eckhart war
       Aristoteliker, die Vernunft und Dogma in Einklang zu bringen versuchten.
       Überall, in Ost und West, waren sie stets den Technokraten der Macht
       unterlegen.
       
       Aber vielleicht gerade deshalb ist der versponnene deutsche Hippie Hermann
       eine überaus realistische Figur, wie er da mit Maryam in der Küche von
       Bernhard sitzt, dem Frankfurter Sponti, der auf seine alten Tage aufs Land
       gezogen ist. Zusammen singen sie Eric Claptons „Layla“, das seinerseits von
       „Leila und Madschnun“ inspiriert ist. Und in diesem Sinn feiert auch „Der
       Idiot des 21. Jahrhunderts“ die Freundschaft, die Liebe und die Utopie.
       Davon kann es nie genug geben.
       
       23 Dec 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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