URI: 
       # taz.de -- Bayerischer Grünen-Chef über 2018: „Söder hat keine Linie“
       
       > Ludwig Hartmann im Interview über den Höhenflug seiner Partei, den
       > bayerischen Ministerpräsidenten und München als neue deutsche
       > Demohauptstadt.
       
   IMG Bild: Die Spitzen der bayerischen Grünen auf dem Parteitag nach der Landtagswahl
       
       taz: Herr Hartmann, die Grünen geben zurzeit nicht nur in Bayern und
       Hessen, sondern auch im Bund ein [1][Bild von sich ab als Partei der
       Stunde]. Sehen Sie da die Gefahr, eine Ad-hoc-Partei zu werden? 
       
       Ludwig Hartmann: Nein. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Die Themen, die wir
       seit Jahren auf der Agenda haben – Klimaschutz, Kampf gegen das
       Artensterben, Umweltschutz –, die brennen plötzlich allen auf den Nägeln.
       Weil wir an einem Punkt angekommen sind, an dem jeder merkt: Wenn wir jetzt
       nicht handeln, dann wachsen uns diese Probleme über den Kopf. Politisch
       spielt uns das als Partei aber natürlich in die Karten – wir haben schon
       Antworten für Probleme, die jetzt von allen wahrgenommen werden.
       
       Also wollen Sie doch weiter der Stimmung hinterherrennen? 
       
       Gar nicht – ich stelle mir schlicht die Frage für Bayern: Wie soll sich
       dieses flächenmäßig größte Bundesland bis 2030 entwickeln? Wir haben bei
       uns mancherorts Probleme, wie man sie zum Teil aus Ostdeutschland oder dem
       Ruhrgebiet kennt. Die Stadt Hof etwa hat seit der Wende weit über 7.000
       Einwohner von damals rund 53.000 verloren. Dort haben die Menschen den
       Eindruck: Zukunft findet woanders statt. Und ausgerechnet da gibt es eine
       schlechte Bahnanbindung, ist das Internet dürftig. Dort wird kaum
       investiert. Stattdessen lockt die bayerische Staatsregierung über „Invest
       in Bavaria“ Firmen an – und von 103 neuen siedeln dann über 70 in
       Oberbayern, im Großraum München. Hier muss umgelenkt werden, das ist keine
       gerechte Chancenverteilung.
       
       Welche Linie sehen Sie denn beim Thema gleichwertige Lebensverhältnisse in
       Stadt und Land beim [2][wiedergewählten Ministerpräsidenten Markus Söder]? 
       
       Gar keine. Er weiß nicht, was er mit dem Amt anstellen soll, obwohl genau
       das immer sein einziges Ziel war, in all den Jahren als bayerischer
       Europaminister, Umweltminister, Finanz- und Heimatminister. Jetzt ist er
       der Chef und hat schlicht überhaupt keine Linie. Die Freien Wähler, der
       aktuelle Koalitionspartner, übrigens auch nicht. Über Edmund Stoiber etwa,
       der ja auch mal Ministerpräsident war, kann man lange streiten, aber der
       hatte eine Linie. Stoiber hat privatisiert und wollte die Erlöse
       investieren in Forschung und Bildung. Söder steht nicht einmal für eine
       Linie über drei Wochen.
       
       Die bayerischen Grünen haben der CSU und der SPD bei den letzten
       Landtagswahlen jeweils fast 200.000 Stimmen abgeluchst. Was machen Sie
       jetzt mit diesem Vertrauensvorschuss der Wähler*innen? 
       
       Ich sehe uns als alternatives Kraftzentrum im Parlament. Bei uns entstehen
       Ideen für Bayerns Zukunft, wir sind ein verlängerter Arm der Umweltbewegung
       in den Landtag hinein. Und wir können mithelfen, die Ideen draußen auf der
       Straße voranzubringen. Die Parlamentsmehrheit, die kann ich in den nächsten
       fünf Jahren natürlich nicht verändern.
       
       Hätten Sie wirklich zur Verfügung gestanden für ein Ministeramt? 
       
       Ja, absolut. Ich hätte gern mitregiert, wäre möglicherweise dafür auch in
       eine Koalition gegangen. Auch wenn sich das Verhandeln wegen zum Teil
       diametral entgegengesetzten Vorstellungen extrem schwierig dargestellt
       hätte. Und es für Katharina Schulze, meine Co-Kollegin, und mich nicht
       leicht geworden wäre, die bayerischen Grünen von einer Koalition mit der
       CSU zu überzeugen. Doch für mich persönlich gilt hier einfach der Satz:
       „Das Beste aus beiden Welten zusammenbringen.“ Politik machen – und
       Kompromisse finden, das gehört für mich zusammen.
       
       In Bayern gab es in den letzten Monaten eine Großdemo nach der anderen –
       und überall mischten dort die Grünen mit. Ob [3][#ausgehetzt] oder gegen
       das Polizeiaufgabengesetz, ob für bezahlbares Wohnen oder gegen die AfD:
       Wird vor diesem bewegten Hintergrund die Grünen-Arbeit im Parlament
       überhaupt wahrgenommen? Oder sind die bayerischen Grünen nicht als eine Art
       APO viel erfolgreicher? 
       
       Sie meinen, ob wir etwa über solche Großdemos nicht mehr Einfluss auf die
       Politik haben, als wenn wir in der Regierung wären?
       
       Genau. 
       
       Na ja, wir wissen ja nicht, wie ein Koalitionsvertrag ausgesehen hätte,
       wäre er denn im Oktober gekommen. Aber es stimmt: Wir sind als Grüne Teil
       einer Bewegung. München ist so etwas wie die deutsche Demohauptstadt
       geworden. Das wurde uns auch in unserem Wahlkampf zurückgespiegelt. Aber,
       um auf ihr APO-Bild zurückzukommen: Da ist schon was dran, dass wir
       bayerischen Grünen auf diese Weise vielleicht erfolgreicher sind als durch
       unsere parlamentarische Arbeit (lacht). Beispiele dafür gibt es einige. Bei
       „Nolympia“ etwa, bei der Bewegung gegen die Olympischen Winterspiele in
       München 2022, war das extrem. Da waren wir im Wahlprogramm erst noch dafür
       – geändert wurde die Haltung zur Ausrichtung von olympischen Spielen erst
       nach einem langen Diskussionsweg qua Abstimmung auf der Freiburger
       Bundesversammlung 2010. Im ganzen Land gab es dazu damals richtig Stimmung
       in der Partei. Das hat sie bundesweit bewegt – und am Ende haben wir uns
       mit den Menschen durchgesetzt gegen ein Olympia der Funktionäre.
       
       Stichwort „Flächenverbrauch“, wo es im Kern um Naturschutz versus
       Landschaftsversiegelung durch Ausweisung von Gewerbegebieten geht: Hier
       engagieren sie sich persönlich besonders stark. Ihr mitinitiiertes
       Volksbegehren, den Flächenverbrauch pro Tag auf fünf Hektar zu begrenzen,
       ist aber jetzt im Sommer gerichtlich auf Landesebene gestoppt worden. Wie
       läuft es da weiter? 
       
       Wir werden das Volksbegehren auf alle Fälle wieder aufleben lassen. Im
       neuen Entwurf konkretisieren wir dann genau den Rahmen für unsere
       angestrebte Höchstgrenze des Flächenverbrauchs. So machen wir klarer, was
       das für die existierende Planungshoheit der Kommunen vor Ort bedeutet.
       
       Kommen wir zurück auf die Frage, wie und ob die bayerischen
       Lebensverhältnisse in Stadt und Land gleichwertig sind. Welche Probleme
       sehen Sie bei dem Thema? 
       
       Ich will in keinem Staat leben, in dem Stadt und Land gegeneinander
       ausgespielt werden, wie etwa in den USA. Aber genau diese Tendenz gibt es
       im reichen Bayern schon. Auch wenn „gleichwertig“ ein starkes Wort ist und
       sicher nicht immer einzuhalten: Wir brauchen viel mehr funktionierende
       Infrastruktur auf dem Land – bei Bildung und Kultur, im digitalen Bereich
       oder beim öffentlichen Nahverkehr. Das muss und kann sich der Freistaat
       Bayern leisten. Und andersrum gilt auch: Die Probleme einer Großstadt wie
       München, die löse ich dort nicht allein. Die löse ich nur mit dem Land
       gemeinsam.
       
       München bitte schön also nicht gegen den Rest des Landes? 
       
       Bis zum Jahr 2030 wollen, so heißt es, über 300.000 Menschen mehr in
       München leben als heute. Das jetzt schon stark verdichtete München kann das
       allein nicht stemmen. Das ist eine echte Herausforderung. Auch deswegen
       wäre ich so gerne Minister für Landesplanung geworden. Den Auftrag aus der
       Stadt – das Direktmandat für München-Mitte – hab ich ja jetzt wenigstens
       schon (lacht).
       
       Gesetzt den Fall, nächstes Jahr bricht die Große Koalition im Bund
       auseinander: Was heißt das für die Grünen? 
       
       Neuwahlen wären dann das Beste – und wenn sich Christian Lindner von der
       FDP vorstellt, dass wir einfach da bei den Jamaikaverhandlungen
       weitermachen, wo die FDP ohne wirkliche Begründung letzten Dezember
       rausgegangen ist, dann hat er was falsch verstanden. Wir als Grüne sollten
       dann unbedingt einen Wahlkampf mit Ziel Regierungsverantwortung machen –
       das erwarten die Menschen jetzt von uns.
       
       Würden Sie nach Berlin gehen, wenn die Grünen denn in der Regierung säßen? 
       
       Auf gar keinen Fall! Ich will aus Bayern eine bessere Republik machen. Die
       Menschen dort sind viel weiter als die, die jetzt am Ruder sind. Eines
       Tages werden die Grünen in Bayern regieren, keine Sorge.
       
       27 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kommentar-Wahl-in-Hessen/!5546195
   DIR [2] /Koalitions-Vertrag-in-Bayern-steht/!5547918
   DIR [3] /Kommentar-Massendemo-in-Muenchen/!5523062
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harriet Wolff
   DIR Andreas Rüttenauer
       
       ## TAGS
       
   DIR Grüne Bayern
   DIR Bayern
   DIR CSU
   DIR Bündnis 90/Die Grünen
   DIR Markus Söder
   DIR Markus Söder
   DIR Grüne Hessen
   DIR Annalena Baerbock
   DIR Grüne Hessen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR CSU-Chef entdeckt Umweltschutz: Pose mit Baum
       
       Seit Wochen inszeniert sich Bayerns Ministerpräsident Söder als Öko-Ritter
       der Nation. Sein Maßnahmenkatalog ist opulent – aber nicht radikal.
       
   DIR Landesversammlung in Hessen: Grüne finden Koalitionsvertrag „geil“
       
       Klare Mehrheit, gute Stimmung, wenig Kritik. Die Grünen in Hessen stimmen
       der Koalition mit der CDU zu und sehen sich als Teil einer „GroKo“.
       
   DIR Die Grünen und Asylpolitik: Baerbock als Boris
       
       Seit Jahren widmet sich die Politik mit größter Hingabe der „härteren
       Asylpolitik“. Die Grünen wollen da nicht länger fehlen.
       
   DIR Neuer Lobbyist für Bayer in den USA: Ex-Grüner wird Glyphosat-Lobbyist
       
       Matthias Berninger kommt gut herum: Erst Staatssekretär bei Renate Künast,
       dann Lobbyist für Schokoriegel. Künftig ist er für Bayer in Washington.