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       # taz.de -- Daily-Soap „Alles oder nichts“: Vom Oben- und Untensein
       
       > Sat.1 wagt eine kluge, bittere Soap über Aufstieg, Klassismus und die
       > feinen Unterschiede. Doch leider findet sie keine Zuschauer*innen.
       
   IMG Bild: Spielen sie schlecht oder sind die Rollen absichtlich so absurd?
       
       Nichts, das Sat.1 je produzierte, sprach mich in den letzten 35 Jahren
       meines Lebens an. Seit Ende Oktober aber ist kein Sat.1-Format erfolgloser
       und besser als „Alles oder nichts“ – eine rasante 25-Minuten-Daily-Soap
       über vier prekäre Fremde in Berlin, die erfahren: Sie sind uneheliche
       Kinder des toten Bau-Millionärs Axel Brock. Witwe Melissa, Mutter zweier
       ehelicher Kinder, kämpft mit und gegen die neuen Erben um Firmenanteile.
       
       Dass mich als Fan der Glamour-Soap „Verbotene Liebe“ die kultivierten,
       gebildeten Frauen in Chefsessel und Penthouse ansprechen, war absehbar.
       Nicht aber, dass deutsche Vorabend-Berieselung in jeder Szene hässliche,
       harte Fragen stellt zu Verteilung, Gerechtigkeit und dem Preis, den man
       zahlt, um aufzusteigen. Oben zu bleiben. „Alles oder nichts“ hat düsteren
       Witz. Tempo. Und den Mut, auch bei sympathischsten Rollen vor allem
       Klassendenken, Defizite zu zeigen.
       
       In jedem Sozialkitsch-Plot hätte Daniel, obdachlos, das „Herz am rechten
       Fleck“ und brächte Reichen bei, „was wirklich zählt“. Hier bleibt er
       Alkoholiker, Vermeider. Bubi Jascha zischt finstersten
       FDP-Sozialdarwinismus: ein Ansgar von Lahnstein, kurz vor dem Abitur. Der
       Hass auf seine Mutter aber trifft einen Nerv. Denn Melissa wankt dauernd:
       als Chefin und moralische Instanz. Könnten ihre Millionen die Welt bessern?
       Ging sie die ganze Ehe über solchen Fragen aus dem Weg?
       
       Jennis Eltern verkaufen Bockwurst am Wittenbergplatz. Erbin, Göre, Putzfrau
       Jenni will sich im Brock-Büro mit BWLer Tarek verbünden. Eine
       Cinderella-Story? Nein: Neuköllner Tarek weiß, welche Kompromisse man als
       Aufsteiger (und Mann of Color) machen muss. Hauptschülerin Jenni kennt
       nicht mal das Wort „Mentor“.
       
       ## Rassismus wird zum Thema
       
       Der Kulturwissenschaftler John Fiske sagt: Figuren faszinieren, sobald sie
       Widersprüche zeigen. Gegen den Strich lesbar sind. Ist Chelsea,
       afrodeutsche Influencerin, eine narzisstische Witzfigur? Mir reicht EIN
       paradoxer Satz, um die Rolle ernst zu nehmen: „Mir geht es nicht ums Geld.“
       Plötzlich wird viel erzählbar über Aufmerksamkeitsökonomie, Sexismus. Und
       Rassismus: Melissa dekoriert ihr Wohnzimmer mit schwarzen Diener-Statuen –
       und beschreibt Chelseas Afro als „so ganz verrücktes Haar“.
       
       Solche Abgründe bleiben genüsslich lange im Raum, ungelöst. Finger sticheln
       in Wunden, wie in US-Serien wie „Shameless“, „Succession“, „Ugly Betty“.
       Nur hat eine Soap eben 200 Folgen und mehr jährlich: Riesen-Erzählflächen;
       Raum für alle Perspektiven, Konstellationen, Einerseits-Andererseits. Ist
       die Rolle Boris schlecht gespielt oder absichtlich absurd? Wie steigert
       sich die Serie jetzt, wo das Drehbuch-Team fertige Szenen sah – auf Stärken
       und Schrullen des Ensembles hinscheiben kann?
       
       [1][Bei GZSZ werden viele Figuren mit ca. 18 Selbstständige, Unternehmer].
       „Alles oder nichts“ hievt so schnell keine Imbissbuden-Elke in den
       Chefsessel: Wer sich hier etwas holt, nimmt es vielen anderen weg. Wer
       aufsteigt, muss Ballast abwerfen. Und jeder oben wägt ab, welche Ideale,
       Prinzipien er sich leisten kann – ohne, abzurutschen.
       
       ## Zeit zum Erzählen
       
       „Whatever it takes“, grölen Imagine Dragons im Vorspann. It takes a lot.
       Denn Oben- wie Untensein zieht Enerige, macht kleinlich und wütend. Ich
       könnte jahrelang zusehen, wie knapp 20 Figuren die Beschädigungen zu
       überwinden versuchen, die ihre gesellschaftliche Stellung ihnen zufügt.
       „Ich habe immer gedacht: Du bist die [eine, einzige] von uns, die es
       schaffen kann“, lobt Bockwurst-Mike seine Kuckuckstochter Jenni. Was macht
       so ein Satz mit Bruder Basti? „Alles oder nichts“ nimmt sich allen Raum,
       solche Abgründe auszuloten.
       
       Produziert wird die Soap von Producers at Work, einer kleinen Firma, deren
       gefälligere Telenovela „Anna und die Liebe“ ab 2008 vier Jahre auf Sat.1
       durchhielt. Produzent Christian Popp will mit „Alles oder nichts“ deutlich
       „breiter“ erzählen: Figuren Raum geben, die in Soaps selten vorkomen; mehr
       zeigen als die typische „Liebesgeschichte aus Sicht einer jungen Frau“.
       Doch die Quoten haben sich in den letzten Wochen nicht verbessert, sie
       stehen wohl für ein baldiges Ende der Daily-Soap.
       
       Vorbei wäre es dann mit den gequälten Gesichtern in „Alles oder nichts“.
       Denn da leidet jeder. Nicht an der Liebe. Sondern an den Verhältnissen: „Du
       weißt doch, wie das ist. Nichts zu haben. Und zu wissen, dass sich auch nie
       im Leben was dran ändern wird.“
       
       6 Dec 2018
       
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   DIR Stefan Mesch
       
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