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       # taz.de -- Wolfgang Kraushaar zur 68er-Bewegung: Als Frank Zappa kein Taxi bekam
       
       > Die Chronik „Die 68er-Bewegung“ zeigt, was an den 60er-Jahre-Bewegungen
       > fasziniert: der Gleichklang von Politik, Pop und Globalem.
       
   IMG Bild: Frank Zappa, Godfather des Avantgarde-Pop, im Jahr 1970
       
       Im September 1968 ereignet sich in Essen etwas Spektakuläres: ein
       Popfestival, dessen betulicher Titel „Internationale Essener Songtage“ kaum
       die gegenkulturelle Kraft spiegelte, die sich dort entfaltete. Das
       viertägige Nonprofit-Event war ein chaotisches Fest, mit linken Aktivisten
       und Freejazz, Liedermachern und Popstars. SDS-Kader sprengten die Eröffnung
       und skandieren „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“.
       
       Neben Brian Auger oder Hannes Wader [1][kam auch Frank Zappa ins
       Ruhrgebiet, Godfather des Avantgarde-Pop.] Als Zappa versuchte, in Essen in
       Taxi zu bekommen, scheitert er sieben Mal. Die Taxen weigerten sich, den
       ungebührlich wirkenden Gast mitzunehmen. Das Festival war ein Ton in den
       vielstimmigen, globalen Protestchören, die in den 60er Jahren von Belgrad
       bis San Francisco, von Berlin bis Tokio erklangen.
       
       Im Dezember 1968 erschien „Street Fighting Man“ von den Rolling Stones,
       eine Hymne auf eine militante Anti-Vietnamkrieg-Demo im März 1968 in London
       – und auf einen 25-jährigen pakistanischen Trotzkisten. Der hatte sich
       einen Namen gemacht, als er Henry Kissinger in einer TV-Debatte wegen des
       Vietnamkrieges rhetorisch Kontra gegeben hatte: Tariq Ali.
       
       Pop, Gegenkultur und linke Politik schienen in einem Traum von Befreiung zu
       verschmelzen. Das war eine Luftspiegelung, die die unterschiedlichen
       Funktionslogiken von Pop und Politik verdeckte. Mick Jagger ließ sich schon
       1968 mit der Limousine zur Demo fahren. [2][Frank Zappa ging das
       konsumskeptische intellektuelle Publikum in Essen,] das dauernd diskutieren
       wollte, auf die Nerven. Offenbar rede man in Deutschland, so Zappa
       erstaunt, lieber über Musik, als sie zu hören. Der Gleichklang von Pop und
       Protest war nur Illusion. Aber was heißt schon – nur?
       
       ## Akribischer Erzähler
       
       Solche und tausend andere Episoden, Anekdoten, Ereignisse finden sich in
       dem rund 2.000 Seiten umfassenden, vierbändigen 68er Buch, das Wolfgang
       Kraushaar, der akribische, unermüdliche Erzähler der Protestbewegungen,
       editiert hat. Es ist eine großzügig illustrierte Chronik der laufenden
       Ereignisse, von Tag zu Tag, von 1966 bis 1969.
       
       Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland – Frankreich, die ČSSR, die USA sind
       prominent vertreten. Zu den Vorzügen der Bände gehört, dass der Blick nicht
       auf Demos und Politik verengt ist. Auch die vibrierende, sich
       explosionsartig ausbreitende Popkultur von Jim Morrisons Exzessen bis zu
       Warhols Factory werden ausführlich dargestellt. Die Kunst, die ein Reich
       der Möglichkeiten eröffnete, war ja untrennbar verbunden mit Politik.
       
       „68“ ist, so kann man es am Ende der 50-Jahr-Feier feststellen, als
       Kristallisationskern politischer Identitäten erkaltet und zur historischen
       Formation abgelagert. Es erzeugt keine politische Reibung mehr, keine
       schwungvoll vorgetragene neue Betrachtung, nur routinierte Vorträge auf
       Symposien.
       
       Nur eine paar Rechte wie Alexander Dobrindt benötigen „68“ noch als
       Gegenbild, um die intellektuelle Kläglichkeit von rasch proklamierten
       konservativen Revolutionen zu bemänteln. [3][Also noch ein Buch über 68?]
       Und gleich ein schwergewichtiges, vierbändiges Coffee Table Book, für das
       ein stabiler Tisch empfehlenswert ist. Dieses Werk will beeindrucken, will
       Abschluss sein, Endgültiges markieren.
       
       ## Globale Revolten
       
       Es stimmt: bunter, facettenreicher, detailgenauer kann man die Geschichte
       eines Jahrzehnts – die Erzählung beginnt zu Recht mit der
       Bürgerrechtsbewegung in den USA 1960 – in einem Buch kaum vor Augen führen.
       Störend ist allenfalls, dass Rudi Dutschke als erbitterter Vordenker der
       Militanz inszeniert wird, eine Passion des Autors. Aber das trübt das Bild
       nur am Rande. Kraushaar rückt das Vergangene nahe, zeigt das Katalogisierte
       neu und vital, in der internationalen Dimension. Denn der spezielle
       deutsche Generationskampf war nur eine Facette. Die Revolten fanden global
       statt.
       
       Auch Lateinamerika, Afrika, realsozialistische Autokratien erfassten die
       Fieberschübe des Protestes. Die Frage, ob rasch befriedete
       Studentenproteste in Belgrad, der Aufstand der Farbigen in den USA, der
       erwachte Mut von Reformkadern in der KP in Prag und Streiks französischer
       Arbeiter in einen Begriff passen, ist, so Kraushaar zutreffend, bis heute
       nicht schlüssig beantwortet. Die nationalen Texturen waren oft völlig
       verschieden. Ähnlich aber war – ein jäh aufbrechendes Freiheitsbegehren.
       Und es gab Strukturen in den 60er Jahren, die die unwahrscheinliche
       Gleichzeitigkeit der Rebellionen ermöglichten.
       
       Die globale Kommunikation war fortgeschritten, Bildungsniveau und Wohlstand
       waren gestiegen. Und es bildete sich eine globale Jugendbewegung heraus.
       Was „Street Fighting Man“ wollte, begriff oder spürte man in Warschau,
       Kapstadt, Detroit sofort. Vielleicht auch das nur – eine Luftspiegelung.
       „68“, das verdeutlicht dieses sorgfältige Werk, ist Chiffre für
       unterschiedliche globale Ereignisse, die für einen Moment im Gleichklang
       schienen. Nichts davon war in der schroff in Ost und West geteilten Welt
       der 60er Jahre vorgesehen. Die Aufstände waren, einen Wimpernschlag lang,
       Vorschein einer anderen Welt – freier, gleicher.
       
       23 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
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