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       # taz.de -- Gelbwesten-Proteste und Transmusicales: Gehör finden, wenn es knallt
       
       > Soldaten mit Gewehren, vernagelte Banken: Die Proteste in Frankreich
       > überschatten die 40. Ausgabe des Festivals Transmusicales im bretonischen
       > Rennes.
       
   IMG Bild: Schaffen zu zweit mehr Atmosphäre als manches Quartett: Léonie Pernet (vorne) und Chloé Raunet
       
       Der Bürgerkrieg in Rennes fällt am Samstag aus. Grüppchen von Gelbwesten,
       Männer zwischen 40 und 60, stehen herum und palavern. Soldaten mit Gewehren
       im Anschlag patrouillieren durch die Straßen. Die bretonische Stadt ist
       verbarrikadiert. Banken sind mit Bretterwänden vernagelt, im Hotel kündigt
       ein Schreiben an, die Eingangstür bliebe verschlossen. Das bewahrheitet
       sich zwar nicht, seinen Gästen rät das Haus aber, sie mögen „unter diesen
       Umständen“ vorsichtshalber auf den Zimmern bleiben.
       
       [1][Draußen findet am Nachmittag eine Demonstration statt], aus Sorge um
       die fortschreitende Klimaerwärmung gehen in Rennes an die 2.000 Menschen
       auf die Straße. Fahnen der Grünen sind zu sehen, auch Gelbwesten. Eintreten
       für mehr Umweltschutz verbindet sich mit allgemeinem Unmut über die soziale
       Lage. „The Sealevel is rising and so are we“ steht auf einem Plakat. Ein
       Hubschrauber kreist über der Menge.
       
       Zwei Tage läuft die 40. Ausgabe [2][des Musikfestivals Transmusicales] zu
       diesem Zeitpunkt bereits, aber sie wird von der neuen Protestbewegung der
       Gilets jaunes überschattet. Auf den Flatscreens in den Restaurants wird
       pausenlos berichtet: Werden die Proteste friedlich bleiben?
       
       In Rennes bleibt es friedlich. Die Wut der Menschen ist dennoch groß: Die
       Regierung müsse endlich „die Menschen ins Zentrum ihrer Politik rücken,
       nicht die Wirtschaft“, schimpft Amélie abends im Kongresszentrum Liberté,
       wo das Festival Transmusicales sein Medienzentrum aufgebaut hat. Die junge
       Frau, die als Promoterin für diverse Labels und Künstler tätig ist, möchte
       nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht. Es gebe in Frankreich
       „ein Drama, die Politik habe den Kontakt zu Teilen der Bevölkerung
       verloren“. Man könne das etwa an den Schülerprotesten ablesen.
       
       Amélie findet die Bildungspolitik der Regierung katastrophal. Eine
       „intransparente Vergabepraxis von Studienplätzen via Internet“ habe die
       SchülerInnen verärgert, nun werden Schulen bestreikt, erklärt die
       24-Jährige. Sie äußert Verständnis für die anhaltenden Proteste und sagt,
       diese fänden nur Gehör, wenn es dabei knallt. Und nein, die Demonstranten
       seien mehrheitlich nicht rechts, erklärt die junge Frau. Aber wem helfen
       die Proteste, Marine Le Pen? Darauf weiß sie keine Antwort, soweit sie
       wisse, hätten sich in Dörfern neue Versammlungsformen gebildet, bei denen
       basisdemokratisch diskutiert werde.
       
       ## Gewalttätige Bilder aus Paris erreichen das Festival
       
       Und auch beim Festival Transmusicales, das seit Donnerstag läuft, machen
       sich Gilets jaunes bemerkbar. Junge Besucher streifen die gelben
       Sicherheitswesten bei den Konzerten über Jacken und Rucksäcke, wie
       Quasimodo aussehend, rempeln sie Umstehende an und tanzen betont
       spielerisch durch die Zuschauermassen. Sofort sind Medienvertreter zur
       Stelle und machen Fotos. Auf einem der großen Tore auf dem Messegelände hat
       jemand „Macron, te déteste“ (Macron, ich hasse dich) geschrieben, die
       Debatte wird emotional geführt. Die gewalttätigen Bilder aus Paris
       erreichen am Abend auch das Festival.
       
       In den Clubs von Rennes bietet sich derweil ein anderes Bild. Junge Frauen
       als Künstlerinnen und Stagehands, als Mischerinnen und Ordnerinnen, gehen
       ohne viel Aufhebens ihrer Arbeit nach. Die Qualität der Bands hat sich im
       Vergleich zu den Vorjahren gesteigert. Künstlerinnen sind beim Festival
       Transmusicales überall sichtbar. Nehmen wir Léonie Pernet aus der
       Didier-Eribon-Stadt Reims. Die 28-Jährige kommt mit ihrer Mitmusikerin
       Chloé Raunet am Donnerstagabend auf die Bühne des Clubs Le1988 in Rennes.
       
       Zu zweit entfachen sie mehr Budenzauber als manches Quartett. Beide
       Musikerinnen thematisieren das Thema Migration. Folksound aus Marokko
       spielt dabei eine Rolle. In ihren Songs verwendet Pernet Texte der
       Schriftstellerin Marguerite Duras. Raunet spielt Percussion, ein Tambourin,
       an dem Kugeln an Schnüren hängen, die zusammen mit dem Schellenkranz ein
       prasselndes Geräusch erzeugen, wenn sie diese mit der Hand berührt. Dazu
       betätigt sie den Synthesizer und singt.
       
       Pernet spielt Drums im Stehen, die Bassdrum steht hinter ihr, sie tritt das
       Pedal mit der Ferse und singt umständlich in ein Mikrofon, dessen Ständer
       extra hoch eingestellt ist. Ihre Körper scheinen der Performance manchmal
       im Weg zu stehen, die Arme wirbeln umher, die lockigen Haare verdecken die
       Gesichter. Egal, es wirkt charmant, sogar sehr charmant. Genau wie bei den
       Songs ihres Debütalbums „Crave“ weiß man nicht genau, wohin die
       musikalische Reise geht: Mal klingt sie nach Doomwave mit viel Hall auf dem
       Synthesizer und Anleihen an Hooklines von The Cure, mal wird es drastisch
       mit verzerrten Gitarren und metallischem Wumms, so verabschiedet sich
       Pernet auch mit dem Metalgruß von ihrem Publikum. Dann wieder wird es folky
       mit kehligem Gesang und der traditionellen arabischen Percussion.
       Jedenfalls führt das musikalische Kuddelmuddel zu eingängigen Popsongs. In
       Frankreich wurde der Sound von Léonie Pernet seltsamerweise als „Coldwave“
       gelabelt. Viel unterkühltes Sentiment und Posing war gar nicht, eher ein
       angenehme Unentschiedenheit.
       
       ## Wie eine Boa constrictor um das Mikrofon
       
       Um Mitternacht am Donnerstag folgt dann in dem Pub Penny Lane in der
       Altstadt ein weiterer Lichtblick. Das Pariser Trio Mauvais Œil hat sich
       angekündigt: Sängerin Sarah Benabdallah bewegt sich auf der Bühne wie eine
       Bauchtänzerin, windet ihren voluminösen Körper, nur mit einem Unterrock und
       langem Mantel bekleidet, wie eine Boa constrictor um das Mikrofon, wobei
       ihr kehliger Gesang verrucht klingt. Zu ihrer Rechten die Bassistin Myriam
       Stamoulis, die den kurvenreichen Sound mit satten Rhythmen und fetten Riffs
       zusammenhält, während links von Benabdallah Gitarrist Alexis Lebon
       solistisch ausbüxt, nachdem er dem Sequenzer wieder einen tuckernden
       Discogroove entlockt hat.
       
       Wenn Lebon Gitarre spielt oder die siebensaitige Oud in die Hand nimmt,
       verortet man ihn eher in Beirut. Wenn der orientalische Discosound zu free
       wird, winkt Stamoulis kurz mit dem Hals ihres Basses, schaut streng, alle
       drei kehren zurück zum Song. Das Publikum ist sofort elektrisiert von dem
       Amalgam aus Ofra Haza, Yeh-Yeh-Freakbeat und dem lasziven Groove des
       legendären „Carwash“-Soundtracks. Wer wissen will, wann und wie die
       arabischen Einflüsse in der französischen Popmusik zum Tragen kommen, bei
       Mauvais Œil gibt es Anschauungsmaterial. Ihr Konzert: eine rauschende
       Feier.
       
       Das lässt sich auch am Freitag gegen 22 Uhr vom Auftritt des
       US-Jazztrompeters und Sängers Ben LaMar Gay sagen. Zusammen mit seinem
       siebenköpfigen Ensemble kommt der Künstler aus Chicago auf die große Bühne
       in Halle 8 des Messegeländes und scattet munter drauflos. Sehr spirituell
       und getragen klingen die zehnminütigen Suiten, bei denen alle MusikerInnen
       neben der Melodie, die sie unisono spielen, auch Platz zum Improvisieren
       erhalten.
       
       LaMar Gay steht in der Tradition des großen Chicagoer Jazzkollektivs Art
       Ensemble of Chicago, Anleihen bei Folkstilen verwendet er ganz
       selbstverständlich. Bei der Künstlervereinigung AACM (Association for the
       Advancement of Creative Musicians) liegen LaMar Gays Anfänge als Musiker.
       Anfang der Zehnerjahre hat er in Brasilien gelebt und von dort jede Menge
       Ideen zurück in die USA gebracht. Dass ein großes Festival wie
       Transmusicales ihm, der im Frühling sein Debütalbum als Bandleader
       veröffentlicht hat, einen Slot einräumt, darf Schule machen.
       
       ## Synchron tanzende Streichhölzer
       
       Tiefer in der Nacht am Freitag bemühen sich dann afrikanische Künstler um
       die Kids in der riesigen Halle 9, die eher einem Hangar entspricht.
       Zunächst Ekiti Sound, ein Quartett aus dem nigerianischen Lagos, das 2019
       sein Debütalbum beim Brüsseler Label Crammed Discs veröffentlichen wird.
       Der Steady Beat des Drummers, der vielfach die Snare einsetzt, reißt mit,
       die Raps des Sängers geraten etwas eintönig. Dafür laufen auf der Leinwand
       hinter der Band kuriose Tanzvideos, deren Dancesteps vom partywütigen
       Publikum gleich ausprobiert wurden. Ein tolles Bild.
       
       Mit Vorschusslorbeeren bedacht war die kenianische Sängerin Muthoni Drummer
       Queen, die mit einem silberfarbenen Kleid im Metropolis-Stil die Bühne
       entert. Flankiert von drei Backgroundsängerinnen, die synchron wie
       Streichhölzer tanzen. Es shuffeln und wummern gewaltige Beats vom Band,
       aber die etwas dünne Stimme von Muthoni Drummer Queen hat dem wenig
       entgegenzusetzen.
       
       In der Reihe „Créa de Trans“ führt eine Künstlerin an vier Tagen
       hintereinander einen eigens für das Festival komponierten Werkzyklus auf.
       Dieses Jahr fiel die Wahl auf die Schauspielerin und Tänzerin Aloïse
       Sauvage. Dass in Frankreich Schauspielerinnen als Sängerinnen reüssieren –
       auch das hat eine lange Tradition. Im Theater „L’Air libre“ findet denn
       auch mehr als nur ein Konzert statt: Die Bühne ist ganz in Schwarz
       getaucht, vier kleine Scheinwerfer werfen wechselnde Schatten auf den
       Boden, auf dem ein rechteckiger Flokatiteppich liegt. Das ist der Stomping
       Ground für die 25-jährige Sauvage, die wie ein Grashüpfer durch Lichtkegel
       und Schatten springt, Slalom läuft und locker tänzelt.
       
       Die Künstlerin nimmt Traditionen des französischen Hiphop auf, fusioniert
       diese mit Chansons. Das ist schon reizvoll, besonders, weil Sauvage sich so
       drahtig und seltsam bewegt. Nur erschöpfen sich die Einsätze ihrer beiden
       Mitmusiker, einem Tastenmann, der alle Melodien, Bässe und
       Percussion-Effekte am Synthesizer einprogrammiert hat und einem Drummer,
       der etwas kraftlos Trapbeats auf ein Drumpad spielt.
       
       Man macht sich trotzdem etwas Sorgen. Um Sauvage, die alleingelassen in
       diesem Setting über große Gefühlswelten Auskunft gibt. Und um das Land,
       dessen Bewohner noch nie so alleingelassen wirkten wie 2019.
       
       11 Dec 2018
       
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