# taz.de -- Gelbwesten-Protest in Frankreich: Vermachtete Strukturen
> Frankreich zeigt dieser Tage sein verzweifeltes Gesicht. Hinter den
> Fassaden driften die Lebenswelten schon lange auseinander. Das Land ist
> kaputt.
IMG Bild: Die da oben, die da unten: Machtstrukturen zerstören die französische Gesellschaft
Ist die Jugend auf der Straße, dräut Gefahr. Das wussten schon in den
1950er Jahren [1][die französischen Lettristen], die, um von sich reden zu
machen, im Quartier Latin plakatierten, eine Jugendfront werde antreten, um
die Straßen zu erobern. Seit 1968 nimmt man das Ernst. Bilder wie die aus
Mantes-la-Jolie, wo die französische Polizei in der vergangenen Woche
Gymnasiasten mit den Händen auf dem Kopf in die Knie zwang, belegen das auf
erschreckende Art.
In Frankreich vergleicht man in diesen Tagen den Aufstand der Gelbwesten
gerne mit 1968. Von mehr als 2.000 Verhaftungen war zuletzt die Rede. 1968
seien es nicht einmal in der Nacht der Barrikaden, am 10. Mai, mehr als 300
gewesen, konnte man in der Libération lesen.
Auch die Aufstände der Banlieue-Jugendlichen von 2005 und 2007 werden gerne
als Referenz herangezogen. Einige sehen gar den Brotaufstand von 1789
wiederkehren: Damals das Brot, heute das Benzin. Solcherlei
Komplexitätsreduktion kommt freilich nur aus den Lautsprechern jener
Romantiker, die auch angesichts eines Bürgerkrieges noch von der großen
Revolution träumen würden.
## Von der Befreiung zur verschlossenen Situation
Der Philosoph Toni Negri kommentierte die Gelbwestenproteste recht
zurückhaltend. 1968, 2007 – das seien Kämpfe im Zeichen der Befreiung
gewesen. „Die aber von 2018 haben ein verzweifeltes Gesicht“, schrieb er
letzte Woche. „'68 heißt 10 Millionen Industrie-Arbeitende im Streik, ein
Sturm auf dem Höhepunkt der Entwicklung und des Wiederaufbaus der
Nachkriegszeit. Hier und heute ist die Situation verschlossen.“
Auf die immer wieder gestellte Frage, wer die Leute sind, die bisher weder
von den rechten noch von den linken Parteien repräsentiert werden, was also
das Verbindende ihrer doch recht heterogenen Forderungen ist, gab Negri die
präziseste Antwort: „Es handelt sich um die verarmte Mittelklasse, die mit
der traditionellen Organisationsweise der Produktion verbunden ist, die
unlängst neoliberal dynamisiert wurde und dennoch weniger wertgeschätzt
wird als die Sektoren der urbanen Dienstleistungen und der ‚kognitiven‘
Produktion.“ Freisetzung und fehlende Anerkennung also.
Auch Frédéric Gros, Philosoph und Herausgeber der Vorlesungen Michel
Foucaults, verwies auf den [2][Abstieg der Mittelschicht] und meinte: „Wir
bezahlen für die systematische Zerstörung des Gemeinsamen der letzten
dreißig Jahre.“ Radikaler Sozialabbau, Perspektivlosigkeit für die jungen
Generationen, eine forcierte Modernisierung – all das habe Wut erzeugt.
Schon lange erweist sich in Frankreich der Mangel an mittelständischen
Betrieben als Problem, die Mittelschicht [3][ist längst nicht so stabil]
wie in Deutschland. Unterhalb der Großkonzerne gibt es nicht viel. Dort
dominiert das am Binnenmarkt orientierte Dienstleistungsgewerbe. Der Norden
Frankreichs ist eine deindustrialisierte Zone, der traditionell arme Süden
wurde aufgewertet durch Luxustourismus und Luxusimmobiliengeschäft. Es ist
nicht unüblich, dass die Menschen dort den Sommer im Wohnwagen verbringen
und ihr Haus derweil an Touristen vermieten, um über die Runden zu kommen.
Das Fleisch wird im Winter gekauft und tiefgefroren, weil es im Sommer viel
zu teuer ist, wenn die Touristen kommen.
## Was das Verdrängte mit der Gesellschaft macht
In Paris, wo sich die Unterschiede verdichten, kann man schon sehr lange
das Gefühl haben, dass ein Funke reicht, um alles zum Brennen zu bringen.
[4][Virginie Despentes’ Romane] erzählen von der Angst der Verlierer und
der Gewalt, die sich tief in die Subjekte eingeschrieben hat. Auch Alexis
Jenni spricht davon. „Die französische Kunst des Krieges“ heißt sein
Romandebüt, für das er vor sieben Jahren den höchsten Literaturpreis
Frankreichs, den Prix Goncourt, bekommen hat.
Der Titel ist wörtlich zu nehmen. Als militaristisch beschreibt Jenni die
Fünfte Republik – hervorgegangen aus dem Putsch, dem Krieg, aus Niederlage,
Verleugnung und Lüge. Am Anfang stand General de Gaulle, und es ist eine
Tragödie, dass einige Gelbwesten heute wieder nach einem General, nach dem
ehemaligen Militärstabschef Pierre de Villiers, rufen. Man kann darüber
streiten, was das Verdrängte mit einer Gesellschaft macht, Jenni kehrt es
hervor und spricht von einem zwanzigjährigen Krieg. Von Verbrechen in den
Jahren 1942 bis 1962, die bis heute nahezu unthematisiert geblieben sind:
Vichy, Indochina, Algerien. Frankreich ist heroisch in der Lüge.
In Paris muss man nur einmal von St. Germain nach Montmartre und dann über
die Porte de la Chapelle raus nach St. Denis fahren, um zu verstehen: Diese
französische Gesellschaft ist kaputt. Und diese Route ist bei Weitem nicht
die einzige, die vor Augen führt, wie in dieser Stadt, in diesem Land,
Lebensrealitäten komplett unvermittelt nebeneinander existieren.
In St. Germain würden nicht einmal drei sogenannte Erwerbsleben im
durchschnittlichen Einkommensbereich reichen, um ein Appartement zu
bezahlen. Wer dort noch lebt und arbeitet, tut dies in einer Art Zeitbubble
aus einem anderen Jahrhundert. Diese Blase für eine Kulisse für
luxusorientierte Tourist*innen zu halten, wäre ein Fehler. Die alte
bourgeoise Lebensform, die dort und nicht nur dort praktiziert wird, ist
mit ganz realen Verhältnissen zwischen Herren und Knechten verbunden.
## Beharren auf der richtigen Lebensweise
Vermachtete Kommunikationsformen, nutzlose Hierarchien, man muss nicht
hochsensibel sein, um das sehr genau zu spüren. Ein merkwürdiges Beharren
auf der richtigen Lebensweise miteingeschlossen. Man versuche nur einmal in
einem der traditionsreichen Cafés am Boulevard ein vegetarisches Essen zu
bestellen. Ein Affront, der mit verkochtem Brokkoli bestraft wird, dem man
nicht einmal das Salz gegönnt hat.
Immobilien, Kunst und Luxus können sich freilich auch die neuen Reichen aus
den Schwellenländern leisten, jene Profiteure einer Art ursprünglicher
Akkumulation in der ausgelagerten Massenproduktion, die in Paris mit SUV
und asiatischem Personal vorfährt. Auch so ein Affront für die
alteingesessene Bourgeoisie – dort, wo ein Antoine Gallimard, der das
altehrwürdige Verlagshaus Gallimard leitet, nicht einmal mit jedem seiner
Starautoren spricht.
Die Macht kommuniziert nicht. Das scheint auch die Idee der politischen
Klasse Frankreichs, die sich weitgehend aus der Bourgeoisie zusammensetzt
und nicht einmal regelmäßige Pressekonferenzen gibt. Kommunikation ist hier
eine Sache zwischen Chef und Einbestellten, etwas, was beherrscht werden
muss. Deshalb hat es so lange gedauert, bis Macron auf die Proteste
reagiert hat. Der Staat lässt sich nicht auf Diskussionen ein. Die
Demonstrierenden auch nicht. Sie lassen die Barrikaden sprechen. Auch so
eine französische Tradition.
15 Dec 2018
## LINKS
DIR [1] /Ausstellung-The-Most-Dangerous-Game/!5536440
DIR [2] /Teil-2-der-Vernon-Subutex-Trilogie/!5485266
DIR [3] /Sozialdemokratie-in-Frankreich/!5517444
DIR [4] /Autorin-Despentes-ueber-neuen-Roman/!5450413
## AUTOREN
DIR Tania Martini
## TAGS
DIR Schwerpunkt Frankreich
DIR Gilets jaunes
DIR Gelbwesten
DIR Bürgertum
DIR Macht
DIR Kommunikation
DIR Französische Revolution
DIR Revolution
DIR Stadtgeschichte
DIR Michel Houellebecq
DIR Islamismus
DIR Schwerpunkt Rassismus
DIR Bernard-Henri Levy
DIR Neue Rechte
DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
DIR Gelbwesten
DIR EU-Finanzpolitik
DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
DIR Gelbwesten
DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
DIR Gelbwesten
DIR Straßburg
DIR Musikfestival
DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
DIR Proletariat
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Buch über das explosive Paris: Paris, du alte Zauberstadt
Éric Hazans wunderbare Stadtgeschichte zeigt Paris als das immer nur
vorläufige Ergebnis aus Aufstand und Unterdrückung.
DIR Essayband von Michel Houellebecq: Die Welt kann nichts für dich tun
Michel Houellebecq, einer der größten Provokateure der Gegenwart, hat einen
neuen Essayband veröffentlicht. Was erfahren wir darin über ihn?
DIR Corona in Frankreich: Was nur die Augen wissen
Manchmal ist es durchaus von Vorteil, irgendwo eine Fremde zu sein.
Zwischen Paris und Rom zum Beispiel kann die Stimmung ganz schön schwanken.
DIR Proteste gegen Polizeigewalt in Paris: The Revolution has come
Die französische Sängerin Camélia Jordana spricht im Fernsehen über
Polizeigewalt – und trifft einen Nerv.
DIR Tour d'Europe vor den Wahlen: Geister gegen das Scheitern
Im Einsatz gegen rechten und linken Populismus: Der französische Philosoph
Bernard-Henri Lévy tourt durch 20 europäische Städte.
DIR Debatte Mit Rechten reden: Nicht naiv Testballons jagen
Was die Gaulands und Salvinis verbreiten, sind keine Entgleisungen, es ist
kalkuliert. Sie instrumentalisieren oder bekehren zu wollen ist zwecklos.
DIR Abgehängt in Frankreich: Frustriert auch ohne gelbe Weste
Fünf Millionen Franzosen leben in sogenannten Problemvierteln. Ihr Alltag
ist geprägt von Armut, Kriminalität und Polizeigewalt.
DIR „Gelbwesten“-Proteste in Frankreich: Macron kann sich zurücklehnen
Wenige Tage vor Weihnachten haben die „Gelbwesten“-Proteste deutlich
weniger Zulauf. Eine Reihe von Festnahmen gab es dennoch.
DIR Frankreichs Haushaltsdefizit: Italien zetert gegen EU
Weil Brüssel das Etatdefizit Frankreichs tolerieren will, ist die Regierung
in Rom empört: Er sei es leid, dass „mit zweierlei Maß“ gemessen werde, so
Salvini.
DIR Protest in Frankreich: Gelbe Westen bekommen Flügel
In der Gelbwesten-Bewegung bilden sich zwei Strömungen heraus. Obwohl die
Proteste abnehmen, bleibt die Wut auf die politische Führung.
DIR Kolumne Jung und dumm: Die Farbe Gelb
Mit Rechten reden? Aber immer! Nur wenn sie gelbe Westen tragen und fremd
reden – dann sind sie dem deutschen Mainstream zu schmuddelig.
DIR Gelbwesten-Protest in Frankreich: Weniger und weitgehend gewaltfrei
Abermals protestieren tausende Gelbwesten auf den Straßen Frankreichs gegen
die Regierung. Die Anzahl der Demonstrant*innen nimmt aber spürbar ab.
DIR Proteste in Frankreich: Aufruf gegen Gewalt
Opfer von Anschlägen in Frankreich wenden sich an die Öffentlichkeit. Sie
kritisieren die „Gelbwesten“, aber auch die Berichterstattung der Medien.
DIR Nach Anschlag in Straßburg: Frankreich appelliert an Gelbwesten
Nach der Attacke von Straßburg drängt Paris zur Mäßigung. Trotz Macrons
Zugeständnissen mobilisieren einige ProtestlerInnen weiter.
DIR Gelbwesten-Proteste und Transmusicales: Gehör finden, wenn es knallt
Soldaten mit Gewehren, vernagelte Banken: Die Proteste in Frankreich
überschatten die 40. Ausgabe des Festivals Transmusicales im bretonischen
Rennes.
DIR Kommentar Macron zu Gelbwesten: Zynisches Weihnachtsgeschenk
Präsident Macron verspricht den protestierenden Bürgern Frankreichs mehr
Lohn. Der Haken dabei: Das Geschenk soll aus Steuern finanziert werden.
DIR Kolumne German Angst: Die ganz große Kleine-Leute-Koalition
Wir haben die kleinen Leute verlassen, um noch kleinere Leute zu werden.
Und wir haben Sehnsucht – aber wir haben nichts zu bieten.