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       # taz.de -- Leander Scholz und die Kinderbetreuung: Mit neuen Vätern leben
       
       > Männer wie Leander Scholz entdecken die Kinderbetreuung ganz neu. Frauen
       > ist sie allzu bekannt. Wie sollen wir damit umgehen?
       
   IMG Bild: Die reproduktive Arbeit zu teilen nimmt mitunter mehr Energie in Anspruch als ihre reale Verrichtung
       
       Vor drei Jahren veröffentlichte der Philosoph, Schriftsteller und damals
       einigermaßen frisch gebackene Vater Leander Scholz in der Welt den Artikel
       „Warum wir endlich echte Väter werden müssen“. Scholz hatte sich, während
       seine Frau nach sechs Monaten wieder Vollzeit arbeitete, für ungewöhnliche
       anderthalb Jahre Elternzeit entschieden, die er als einschneidend erlebte:
       „Ganze Tage mit einem kleinen Wesen zu verbringen, das vollständig auf
       einen angewiesen ist, hinterlässt tiefe Spuren im psychischen Bau.“
       
       Inzwischen hat der 49-Jährige seinen Text zu einem Essay in Buchform
       ausgearbeitet. Angereichert mit historischen, philosophischen, aber auch
       autobiografischen Exkursen spielt „Zusammenleben. Über Kinder und Politik“
       die alte These, dass das Private politisch sei, neu durch: Wenn für jede*n
       die (tägliche) Erfahrung von Sorge für andere selbstverständlich wäre und
       sie als solche wertgeschätzt würde, könnte das Politik und Gesellschaft
       grundlegend verändern (Hanser.Berlin, 161 Seiten, 19 Euro).
       
       Meine erste Reaktion auf „Zusammenleben“ war: Typisch, Mann geht in
       Elternzeit, macht „intensive“ Erfahrungen und mansplaint danach, wie die
       Welt besser funktionieren würde. Warum schreiben nicht viel mehr Frauen,
       die traditionellen Expertinnen auf dem Gebiet der Familienarbeit wie auch
       der sogenannten Doppelbelastung, solche Essays? Wollen sie zwischen Job und
       Familie nicht auch noch die Weltrettung quetschen?
       
       In den ersten drei Jahren nach der Geburt meines Sohnes, die ich weitgehend
       alleinerziehend, [1][also ohne Alltagsvater im Scholz’schen Sinn bestritt],
       sagte ein Freund manchmal halb ironisch zu mir: „Du musst das alles
       unbedingt aufschreiben!“
       
       Ein Vorteil der schreibenden neuen Väter ist der Umstand, dass sie als
       Generation Neuland betreten. Die Geschichte der weiblichen Care-Arbeit, die
       über Generationen nicht nur schlecht- oder unbezahlt geleistet werden
       musste, sondern alternativlos war, dürfte die häusliche Euphorie vieler
       Frauen derselben Generation entschieden dämpfen – gerade wenn sie sich
       stark über ihren Beruf definieren.
       
       Die reproduktive Arbeit zu teilen oder sich von ihr zumindest nicht
       komplett vereinnahmen zu lassen nimmt mitunter mehr Energie in Anspruch als
       ihre reale Verrichtung.
       
       ## Demütiges Anziehsachen-Glattgestreiche
       
       Leander Scholz dagegen erkundet die häusliche Sphäre freiwillig und mit
       Neugier als unbekannten Kontinent. In seinen liebevollen, genauen
       Beobachtungen des Lebens mit Säugling und Kleinkind, aber auch der eigenen
       Psyche dürften sich viele Eltern wiedererkennen:
       
       „Man hat weniger Zeit, insgesamt, füreinander, aber vor allem für sich
       selbst. […] Die Bandbreite der Gefühle ist deutlich größer geworden. […]
       Sie zu beherrschen ist viel schwieriger geworden.“ Oder: „Man weiß von
       Anfang an, dass man irgendwann verlassen werden und trotzdem weiter lieben
       wird. Bemerkenswert ist, dass gerade das einen glücklich zu machen vermag.“
       
       Aus Tätigkeiten, die auch ich nur mit einer gewissen Demut immer wieder
       aufs Neue verrichten kann, zieht Scholz konkrete Schlüsse: „Wenn ich die
       Anziehsachen unseres Sohnes glattstreiche und gefaltet in seinen Schrank
       lege, stelle ich mir vor, wie er sich freut, seine Lieblingshose frisch
       gewaschen vorzufinden und anziehen zu können. […] Die Belohnung besteht
       darin, dass es diesem Menschen gut geht. Mein Ansehen wird dadurch nicht
       gesteigert.“
       
       So treffend diese Beobachtung für die überwiegende Mehrheit aller
       Fürsorgenden auch ist: Indem Scholz darüber schreibt, entzieht er das
       Wäsche-Zusammenlegen bereits der heroischen Unsichtbarkeit, ermöglicht sich
       legitime Anerkennung. Und warum auch nicht? Längst gibt es auch eine ganze
       Reihe von Instagram-Profilen (wie slowmothering o. ä.) hochmotivierter
       Mütter, die ihre achtsame Familienarbeit ästhetisch ansprechend
       dokumentieren und vermarkten.
       
       ## Postwachstum und Geburtswahlrecht
       
       Entsprechend sieht Scholz die Konfliktlinie unserer Zeit nicht zwischen
       Männern und Frauen, sondern zwischen Individualismus und Gemeinwohl
       verlaufen: „Wenn für uns alle die berufliche Welt in den Mittelpunkt des
       Lebens rückt, werden die Fähigkeiten und Tugenden, die traditionell mit dem
       Haus verbunden sind, immer weiter verkümmern. Die Familienarbeit wird dann
       noch stärker abgewertet werden als bisher.“
       
       Als bekennender Sozialdemokrat weiß Scholz natürlich, dass die
       Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Aufstiegschancen seit jeher im
       Zentrum der Politik seiner Partei stehen. Die (noch) vom Sozialstaat
       übernommenen reproduktiven Leistungen dagegen kranken oft daran, dass sie
       meist schlecht bezahlt, also gering geschätzt werden.
       
       Die Fixierung auf volkswirtschaftliches Wachstum und individuelle
       Selbstverwirklichung hält Scholz völlig zu Recht nicht mehr für zeitgemäß:
       Zum einen entzieht sie die Bürger*innen der konkreten gesellschaftlichen
       Mitgestaltung. Zum anderen trägt sie weiter zu einer Ökonomie bei, deren
       Konsequenzen für Klima und Politik sich gerade als verheerend erweisen.
       
       Scholz will weder zurück ins autoritäre Patriarchat noch in den
       Old-School-Sozialismus, der die Kinder von den Familien weg kollektiviert
       hat. Zwar stellt er in seinem Essay keine harten Regulierungsforderungen
       wie etwa nach einer gendergerecht geteilten Elternzeit. Daran, dass er die
       Erfahrung von Hingabe und Fürsorge für grundlegend hält, lässt er jedoch
       keinen Zweifel.
       
       Am weitesten aus dem Fenster lehnt er sich mit der Idee eines „Wahlrechts
       ab Geburt“, das zunächst die Eltern für ihre Kinder wahrnehmen sollen.
       Scholz will damit nicht nur den politischen Einfluss von Familien stärken,
       er plädiert vielmehr für eine Art demokratischen Lernprozess mit und durch
       die Familie: „Im Umgang mit Kindern kann man die enormen Anstrengungen der
       Demokratie erlernen. Nichts lässt sich befehlen, ohne zu schaden.“ Im
       Zuhören erkennt Scholz die vielleicht wichtigste demokratische Tugend.
       
       ## Pokémon-Karten-Plenum
       
       Im Prinzip rennt er damit bei mir, zumal als Prenzlauer-Berg-Mutter und
       Jesper-Juul-Leserin, offene Türen ein. Aber ist das kernfamiliäre
       [2][Demokratietraining nicht doch ein Privileg bürgerlicher Milieus]? Wer
       hat Zeit und Nerven, sich um jede Pokémon-Karte, jedes Tischdecken, jede
       Medienzeitüberschreitung mit dem Nachwuchs an den runden Tisch zu setzen,
       und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder?
       
       Leander Scholz skizziert seine Herkunft aus einem Arbeiterhaushalt, er hat
       sozusagen Eribon-Gepäck, kennt soziale Scham. Überdies wurde er über Jahre
       als Kind sexuell missbraucht, ohne dass seine überforderten Eltern ihn
       hätten beschützen können. Danach und nach der Schilderung des distanzierten
       Verhältnisses zu seinem im Alter ausländerfeindlich gewordenen Vater kann
       man sich vorstellen, dass er zu seinem eigenen Sohn eine ganz andere
       Beziehung haben will. Aber auch, dass es ihn einiges gekostet hat, sich als
       neuen Vater zu entwerfen.
       
       Es gibt andere Situationen, in denen die Idee der Wahlfreiheit an eine
       Grenze gerät. Wie stimmberechtigt sind Kinder etwa, wenn ein Elternteil
       aussteigen will aus der demokratischen Keimzelle, weil das individuelle
       Glücksstreben es verlangt? Diese Möglichkeit diskutiert Scholz nicht, was
       schade ist, da gerade die schmerzlichen Brüche in Familien auch zu neuer
       Vielfalt beitragen können, die auch Halbgeschwister, Wahlomas und
       Kinderlose mit einschließen.
       
       ## Soziale und biologische Väter
       
       Mein achtjähriger Sohn ist gerade in seinen allerersten Lebensjahren in
       einer [3][Art Wahlfamilie aus befreundeten Familien] und zu Freund*innen
       gewordenen Babysittern herangewachsen, die zwar nicht permanent
       zusammenlebte, in der sich aber Sorgen und Glücksgefühle teilen und Feste
       feiern ließen.
       
       Die Versuchung, solche eigenen Erfahrungen hochzurechnen, ist riesig. Was
       ich eigentlich gelernt habe, ist aber, dass es verschiedene Wege gibt, in
       der Familie, im Zusammen- wie im Getrenntleben, etwas gutzumachen. Auch als
       Vater, ob sozial oder biologisch: Der Vater meines Sohnes und seine
       Freundin verbringen zwar weniger Zeit mit ihm als ich, aber sie gestalten
       diese sorgsam, und er kehrt anders erfüllt von ihnen zurück.
       
       Mein Freund, der selbst keine eigenen Kinder hat, lässt sich oft mit mehr
       Geduld als ich auf ihn ein; die beiden haben eine eigene, enge Beziehung
       miteinander.
       
       Das alles steht nicht in Widerspruch zu Leander Scholz’ „Zusammenleben“, es
       ist eher eine Ergänzung. Wie sich überhaupt dieses Buch so am besten lesen
       lässt: als Dialogpartner, dem man zustimmen und widersprechen kann.
       
       11 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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