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       # taz.de -- Die Wahrheit: Sarg aus Fleisch, schweißgebadet
       
       > Live fat, die young: Die Weihnachtsvöllerei und der Alkohol-Abusus
       > zwischen den Jahren zeitigen gravierende Folgeschäden.
       
       An Heiligabend ist noch alles in Ordnung. In alter Tradition sitze ich ganz
       allein zu Hause und gucke „Narcos“: Schnee, Gewalt und bigotte Psychopathen
       – immerhin die Wahl der Netflix-Serie ist meine augenzwinkernde kleine
       Reminiszenz an Weihnachten. Der 24. Dezember bleibt auch der letzte mir
       erinnerliche Tag, an dem ich mich normal ernährt und Sport getrieben habe.
       
       Am nächsten Morgen nehme ich den Zug ins wunderschöne Schlaraffenland. Dort
       wohnen fromme Menschen, die es sich zum Ziel gemacht haben, mein Volumen zu
       vergrößern. Wir sollen wachsen, so will das Gott. Wenn ich nicht gerade bei
       irgendwem zu Hause sitze und mich füttern lasse, bin ich unterwegs, um mich
       nach christlichem Brauch zuzulöten. Oft kombiniere ich auch beides. Erst
       füttern, dann zulöten. Oder erst zulöten, dann füttern. Oder gleichzeitig
       löten und zufüttern – erlaubt ist, was gefällt.
       
       Obwohl ich mit Religion so gar nichts am Hut habe, will ich dennoch auf
       keinen Fall abseitsstehen: Fische, Enten, Schokolade – tot oder lebendig,
       sie oder ich. Und noch einen gesottenen Schweinebrocken mit Fettklößen und
       Furzkraut, und noch einen, und damit das alles auch besser rutscht, ein
       Gläschen vom sehr guten Klabusterbeerenlikör, und damit das Gläschen besser
       rutscht, noch ein zweites Gläschen, und auf zwei Beinen kann ja keiner
       stehen, schon gar nicht nach zwei so wohlwollend eingeschenkten Humpen
       „Original Köthener Klabusterbeere“. Dass ich schon nach zwei Tagen der
       Vollmast über die Proportionen und die Statik eines Kastanienmännchens
       verfüge, erhöht die Standfestigkeit auch nicht gerade.
       
       Nach den Weihnachtsfeiertagen wird es bloß noch schlimmer. „Zwischen den
       Jahren“, wie man in der vergeblichen Hoffnung auf deren völliges Vergessen
       sagt, muss nämlich alles weg, was bis dahin noch keiner gefressen hat.
       Sonst zürnt Gott.
       
       Ich werde auffallend kurzatmig. Nach nur wenigen Treppenstufen keuche ich
       wie ein Mops. Treppab, versteht sich – treppauf benutze ich den
       Lastenaufzug. Ich bin mittlerweile bei einer Art Hexenfamilie
       untergebracht, die mich vorbereitend für die Silvesterfeier mästet.
       Zwischen den Mahlzeiten lasse ich mich auf einer Sackkarre aus gehärtetem
       Speck herumfahren. Nach dem Essen begeben wir uns sofort wieder in die
       stabile Seitenlage, um Energie zu sparen. Auch können Zucker, Fett und
       Alkohol auf diese Weise gleichmäßiger zerlaufen. Dann passt wieder mehr
       rein.
       
       ## Verpuppt bei den Wanstwesen
       
       Nachdem ich erst wie eine Raupe alles kahlgefressen habe, verpuppe ich mich
       nun. Kopf, Hals und Gliedmaßen sind bei der Puppe des
       Riesenweihnachtsfettspinners als solche kaum mehr zu erkennen. Sie werden
       zunehmend eins mit seinem Rumpf. Darin wirft die Verdauung mit lautem
       Grollen ihre mächtige Maschine an. Christstollen und Rinderbraten, Geißlein
       und Wackersteine rumpeln und pumpeln in meinem Bauch herum, werden
       zerschrotet, gemahlen und mit Magensäften gemischt.
       
       Aufnehmen und Ausscheiden sind die alles überlagernden Körperfunktionen.
       Meine einzigen verbliebenen Gänge sind Stuhlgänge. Danach begebe ich mich
       vollkommen ermattet zurück aufs Sofa oder ins Bett.
       
       Ich träume schlecht. Wahrscheinlich sollte man nicht schwer essen, kurz
       bevor man schlafen geht, und es ruhig auch mal einen Abend ohne
       Alkoholvergiftung versuchen. Doch offenbar habe ich mich zu einem
       vorbildlichen Christen gewandelt. Gläubig befolge ich sämtliche
       Festtagsrituale: Fressen, Saufen, Rumliegen. Aber ob das jetzt wirklich
       immer so weitergeht?
       
       ## Es knackt und kracht
       
       In meinem Traum bin ich ein riesiges rundes Kuckucksküken. Ich sitze oben
       auf einem viel zu kleinen Nest und sperre. Die anderen Küken habe ich aus
       dem Nest verdrängt oder gleich selbst aufgefressen. Nun warte ich auf die
       Vogelmutti, die nicht meine ist, aber egal. Sie ist einfach zu blöd, um den
       Betrug zu checken – der Biologe nennt das euphemistisch „Mutterinstinkt“.
       Sie kommt herbeigeflogen und bricht mir weich das vorverdaute Futter in den
       weitgeöffneten Schnabel: Butterplätzchen, Geflügelsalat, Hirschgulasch und
       Rotwein. Der Eichenbaum, auf dessen stärkstem Ast das Nest ruht, schwankt.
       Die Vogelmutti wiegt nur zwanzig Gramm und doch ist sie der Tropfen, der
       das Fass zum Überlaufen bringt. Es knackt und kracht.
       
       Schweißgebadet wache ich auf. Mein Kiefer ist bretthart. Das Knacken und
       Krachen muss von den Zähnen herrühren. Die sind keinen Moment der
       Untätigkeit mehr gewohnt, so dass sie des Nachts im Leerlauf unablässig
       weiter vor sich hin mahlen. Ansonsten hat mich eine lähmende Lethargie
       gepackt. Selbst das Verdauen wird mir zu anstrengend. Die Plätzchen kullern
       nur noch durch wie in der Kugelbahn.
       
       Silvester werde ich von den anderen Wanstwesen aufs Dach gerollt, zum Glück
       ist es ein Flachdach. Mit dicken Augen beobachte ich das Feuerwerk, während
       eine Flasche Sekt durch einen Trichter unablässig in meinen Rachen läuft.
       
       Schluck- und Schließmuskel haben mittlerweile alle anderen ersetzt – dafür
       sind sie kräftiger denn je. Ich bin ein bisschen stolz auf diese
       konsequente Selbstzerstörung – Janis Joplin, Kurt Cobain, Fats Domino – ,
       das ist ja irgendwie auch Rock ’n’ Roll, wenngleich in einer sehr
       gemächlichen Spielart. Live fat, die young.
       
       ## Verzweifelte Rufe, unerhört
       
       Sterben respektive Platzen will ich allerdings noch nicht – so lautet auch
       mein einziger Vorsatz für 2019. Am besten, ich mache es wie Keith Richards.
       Der lässt jedes Jahr zehn Monate komplett die Sau raus, um sich
       anschließend sechs Wochen lang auf einer ayurvedischen Gesundheitsfarm das
       Blut waschen, die Adern entkalken und den Sack aufpumpen zu lassen. Doch
       das muss man sich in dieser Form natürlich leisten können. Qualität kostet
       nun mal. Das geht ja schon mit dem Heroin los. Der Stoff von solchen Leuten
       ist derart sauber; der ist gesünder als Radler beziehungsweise als kein
       Heroin.
       
       Ich könnte den Aufenthalt in Richards' Wiederaufbereitungsanlage wohl kaum
       bezahlen, aber spätestens ab dem Dreikönigstag beginne ich mich zu
       langweilen. Ich wünsche mir deshalb, auch in eine solche Einrichtung
       verbracht zu werden, wo man mich entschlackt, entfettet und wieder für mein
       altes Leben (Arbeit, Ankleiden, aufrechter Gang) fit macht. Und zwar ohne
       den geringsten geistigen und körperlichen Einsatz meinerseits. Nur, wie
       kann ich mich bemerkbar machen? Tief drin in dem unbeweglichen
       Weihnachtsfettsack, der mich wie ein Sarg aus Fleisch gefangen hält, bin
       ich noch immer geistig rege, rank und schön sowie voller Pläne und
       Sehnsüchte.
       
       Ich rufe verzweifelt, doch keiner kann mich hören.
       
       12 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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