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       # taz.de -- Virginie Despentes' „King Kong Theorie“: Der Skandal, kein Opfer zu sein
       
       > Despentes' „King Kong Theorie“ hilft gegen Populismus. Und dagegen, es
       > sich in der Gegnerschaft von Rassismus und Patriarchat zu leicht zu
       > machen.
       
   IMG Bild: Als Prostituierte zu arbeiten habe sie „Geldschein für Geldschein“ für ihre Vergewaltigung entschädigt, sagt Virginie Despentes
       
       Identitätspolitik können sich nur die Privilegierten, also die „Eliten“,
       die kosmopolitischen „Linksliberalen“, leisten, während die Armen, die hart
       arbeitenden Mittelständler und die Abgehängten doch weitaus größere
       Probleme hätten. So erzählen es uns rechte und linke Populisten seit
       Trumps Wahlsieg tagein, tagaus.
       
       Will uns diese Denkfigur wirklich nur sagen, dass die Diskriminierung der
       Armen, Arbeitenden und Abgehängten als Schwule, Schwarze, Frauen nicht
       weiter ins Gewicht falle? Oder suggeriert sie nicht vielmehr, dass es im
       Grunde gar keine lesbischen, psychisch kranken, alleinerziehenden,
       dunkelhäutigen oder weiblichen Armen und Abgehängten mit Behinderungen
       gibt?
       
       Die „kleinen Leute“, das scheinen auch in den Vorstellungswelten von 2019
       immer noch normale Männer mit deutschen Nachnamen zu sein. Heterosexuell
       und heimatverbunden stehen sie der trauten Kleinfamilie vor. Ihre
       treusorgenden Frauen hüten derweil die Kinder. Was für ein Quatsch.
       
       Männliche Intellektuelle erläutern uns dennoch unverdrossen, der Sexismus
       von Donald Trump sei zwar irgendwie ärgerlich, aber nicht das wahre
       Problem. Seine Idee von weißer Überlegenheit sei noch schlimmer, am
       schlimmsten aber seine Leugnung der Klimakatastrophe.
       
       Das ist symptomatisch für eine Gesellschaft, die vergessen zu haben
       scheint, was sie schon mal wusste. Klaus Theweleits Studie über
       „Männerphantasien“, Wilhelm Reichs Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen
       sexueller Zwangsmoral und der Massenpsychologie des Faschismus, Friedrich
       Engels’ Überlegungen zum Ursprung von Familie, Privateigentum und Staat,
       all die Texte radikaler Feministinnen, die es gar nicht erst in den Kanon
       geschafft haben – vergessen, oder besser gesagt: verdrängt.
       
       ## Eine psychotische Verzerrung
       
       Wenn Donald Trump über Frauen sagt, er wolle an ihre Muschi grabschen, und
       im nächsten Tweet bekräftigt, er wolle eine Mauer bauen, wenn deutsche
       Populisten von „Genderwahn“ und „Umvolkung“ fantasieren, ist das Ausweis
       einer psychotischen Verzerrung. Es verweist aber auch auf ein geschlossenes
       Weltbild, in dem das Phantasma eines von zersetzenden Kräften bedrohten
       Volkskörpers und der kaum verhohlene Hass auf Frauen, Schwule und alle
       anderen, die angeblich nicht ganz normal sind, zusammengehören.
       
       Es ist daher gar nicht verwunderlich, dass es das zwölf Jahre alte Buch
       einer Feministin ist, das der gegenwärtigen Misere mit einer Form der
       Kritik begegnet, die diesen Namen verdient. Die Frau heißt Virginie
       Despentes, ihr Buch „King Kong Theorie“. Der autobiografisch grundierte
       Essay – dessen Titel sich Despentes’ Beobachtung verdankt, als Frau sei sie
       „eher King Kong als Kate Moss“ – wurde jetzt neu übersetzt und wieder
       aufgelegt.
       
       Als das Buch erschien, war der Siegeszug der Populisten in den
       Verhältnissen bereits sichtbar angelegt, aber auch gegen den linksliberalen
       Mainstream musste sich Despentes zur Wehr setzen: „Die Männer prangern
       lauthals soziale oder rassistische Ungerechtigkeiten an, aber wenn es um
       die männliche Dominanz geht, sind sie nachsichtig und verständnisvoll.
       Viele wollen uns erzählen, der feministische Kampf sei nebensächlich, ein
       Reichensport ohne Relevanz und Dringlichkeit. Man muss schon ein Idiot oder
       höchst unredlich sein, um die eine Unterdrückung unerträglich zu finden und
       die andere als poetisch zu rühmen.“
       
       Die Autorin, die mit dem Roman „Baise-moi“ in den 1990ern berühmt wurde und
       nach ihrer [1][„Vernon Subutex“]-Reihe als eine der wichtigsten
       Schriftstellerinnen Frankreich gehandelt wird, formuliert eine radikale
       Position, die Quotendiskurse und staatliche Mutterschaftssubventionen nicht
       für das emanzipatorische Nonplusultra hält. Ihr geht es um eine Kritik an
       den Geschlechterverhältnissen, die anerkennt, dass sich in diesen
       gesellschaftliche Verhältnisse spiegeln, die es grundsätzlicher in Frage zu
       stellen gilt.
       
       Am Beginn der Überlegungen von Despentes steht die Selbstbeschreibung als
       Beschädigte, Scheiternde und Verurteilte. Sie erblickt sich im Spiegel des
       herrschenden männlichen Blicks „als Frau, die immer ‚zu‘ ist: zu laut, zu
       grob, zu zerzaust und immer zu männlich“. Daher ist der Autorin die
       „Loserin in Sachen Weiblichkeit“ nicht nur sympathisch, sie erscheint ihr
       sogar unverzichtbar“. Genauso wie der gesellschaftliche, wirtschaftliche
       oder politische Loser. „Mir sind die lieber, die es nicht schaffen, aus dem
       einfachen Grund, weil ich es selbst nicht besonders gut schaffe.“
       
       Als Frau, die aus der linken Punkszene kommt, hat Despentes die
       analytischen Werkzeuge und die praktischen Fähigkeiten des Empowerments
       erworben, um die gesellschaftlich forcierte Rolle als Frau zurückzuweisen,
       die sie nicht ausfüllen kann oder will. Sie macht sich eine Position zu
       eigen, die es für Frauen nicht geben darf und soll: „Alles, was ich an
       meinem Leben mag, alles, was mich gerettet hat, verdanke ich meiner
       Männlichkeit.“
       
       Sie erzählt daher von ihrer Vergewaltigung und ihrer Arbeit als
       Prostituierte nicht im allseits erwünschten selbstzerstörerischen
       Opfer-Modus, weswegen ihr sofort Aggression entgegenschlägt. Als junge Frau
       vergewaltigt worden zu sein, ist für sie etwas, das sie „zugleich entstellt
       und ausmacht“. Als Hure zu arbeiten ein Unternehmen, das sie „Geldschein
       für Geldschein“ für das entschädigt habe, „was man mir mit Gewalt gestohlen
       hatte“. Die strukturelle Ähnlichkeit von Prostitution und Ehe als mal
       offenes, mal verborgenes Tauschverhältnis unter asymmetrischen
       Machtverhältnissen ist für sie ausgemachte Sache.
       
       Unterdessen sei Mutterschaft „der am lautesten gerühmte Aspekt der
       Weiblichkeit“ geworden, hält Despentes weiter fest. Wer nicht glaubt, dass
       das ein internationales Phänomen ist, soll sich mal einen Nachmittag auf
       Spielplätzen aufhalten, auf denen die neue Mutterschaft perfekt performt
       wird. Die bürgerliche Mutter und Ehefrau schiebt einen Kinderwagen vor sich
       her, der das Monatsbudget vieler Alleinerziehender übersteigt, worin sich
       einmal mehr der Double Bind zeigt, den das Patriarchat höchst erfolgreich
       installiert hat.
       
       Diesen beschreibt Despentes so: „Ohne Kind keine glückliche Frau, aber
       Kinder unter anständigen Bedingungen großzuziehen wird fast unmöglich.
       Hauptsache, die Frauen fühlen sich als Versagerinnen.“
       
       ## Totale Macht
       
       Das angeblich natürlich gegebene Wissen der Mutter, was gut für die Kinder
       sei, begründe ihre totale Macht, meint Despentes. Und diese Macht bekämen
       nicht mehr nur die Töchter, sondern auch die Söhne zu spüren. Hier zeige
       sich „die häusliche Entsprechung zu dem, was sich in der Gesellschaft
       entwickelt“: Der Staat, der besser zu wissen glaubt, was uns guttut, als
       wir selbst, der Staat, „der sich zur allmächtigen Mutter aufschwingt, ist
       ein faschistoider Staat“.
       
       Den Zusammenhang zwischen reaktionären Vorstellungen von Weiblichkeit und
       einer kollektivistisch-völkischen, anti-emanzipatorischen Politik fasst
       Despentes schließlich in einem Satz zusammen: „Die Mutter wird mit allen
       Tugenden ausgestattet, um den kollektiven Körper auf die faschistische
       Regression vorzubereiten.“
       
       Die Männer wiederum sollten sich nicht zu früh freuen, wenn die Gängelung
       der angeblich unmütterlichen, zu emanzipierten Frauen wieder zum
       Normalzustand wird: „Die Körper der Frauen gehören den Männern nur dann,
       wenn die Körper der Männer in Friedenszeiten der Produktion und in
       Kriegszeiten dem Staat gehören. Die Beschlagnahmung der Frauenkörper findet
       gleichzeitig mit der Beschlagnahmung der Männerkörper statt.“
       
       Viele der erklärten Gegner von Rassismus und Patriarchat scheinen diese von
       Despentes beschriebenen Zusammenhänge nicht begreifen zu wollen. Sie ziehen
       sich stattdessen selbst gern narzisstisch-identitär auf ihre individuellen
       Opfererzählungen zurück. Nicht anzuerkennen, dass niemand mit seiner realen
       oder gefühlten Diskriminierung, dass niemand mit sich selbst identisch ist,
       und mehr noch, dass es keine menschliche Existenz jenseits von Beschädigung
       und Entfremdung gibt, läuft aber darauf hinaus, emanzipatorische Politik zu
       unterminieren.
       
       13 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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