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       # taz.de -- Fälschungsskandal beim „Spiegel“: Die Wahrheiten des Relotius
       
       > Ein preisgekrönter Autor soll beim „Spiegel“ mehrere Geschichten erfunden
       > haben. Es ist einer der größten Skandale im deutschen Journalismus.
       
   IMG Bild: Die Geschichte „Jaegers Grenze“, erschienen am 17. November 2018, ließ alles auffliegen
       
       Am Ende wurde Claas Relotius von einem Kollegen zu Fall gebracht. Man muss
       das wohl so sagen. Denn Relotius ist wirklich tief gefallen: Am 3. Dezember
       hat er noch den renommierten Reporterpreis für die Beste Reportage
       bekommen. Für „Ein Kinderspiel“, eine Geschichte über einen syrischen
       Jungen, der durch das Sprühen eines Anti-Assad-Graffitos in Daraa womöglich
       einen Aufstand ausgelöst hat. Die Jury lobte einen Text, „der nie offen
       lässt, auf welchen Quellen er basiert“.
       
       Aber das stimmt wohl nicht.
       
       Gab es die Quellen? Haben sie das gemacht und gesagt, was Relotius
       aufgeschrieben und Der Spiegel veröffentlicht hat? „Es ist nur, leider, wie
       so viele andere Arbeiten aus Relotius’ Manufaktur, ein fantasievolles
       Machwerk“, schreibt das Magazin nun selbst über seinen Autor und dessen
       Artikel.
       
       Das Haus hat einen großen Fälschungsskandal. Ausgerechnet Der Spiegel, der
       so stolz ist auf seine Recherchen und seine Dokumentationsabteilung, die
       eben diese Recherchen überprüfen soll. Das Magazin, in dessen Haus man bis
       heute von Rudolf Augsteins Motto „Sagen, was ist“ empfangen wird. Und
       ausgerechnet Relotius, der 33-Jährige, dessen Reporterpreis nicht der
       erste, sondern der vierte für ihn war, der diverse weitere Ehrungen und
       Auszeichnungen bekommen hat, den Der Spiegel in seiner eigenen Geschichte
       „ein journalistisches Idol seiner Generation“ nennt, hat am Montag nach
       eineinhalb Jahren als Redakteur beim Spiegel gekündigt.
       
       ## Zweifel zu Protagonisten
       
       Am Mittwoch wurden die Mitarbeiter an der Ericusspitze informiert [1][und
       der ganze Fall bei Spiegel Online veröffentlicht.] Und der liest sich
       streckenweise wie ein Krimi: Denn Juan Moreno, der Kollege, der Relotius zu
       Fall gebracht hat, hatte ihm hinterherrecherchiert. Auf eigene Faust und
       auf eigene Kosten, wie es in dem Spiegel-Artikel heißt.
       
       Alles begann mit einer gemeinsamen Arbeit: Moreno und Relotius
       recherchierten an einer Geschichte, „Jaegers Grenze“ über Flüchtlinge, die
       in die USA wollen – und eine Bürgerwehr, die ihnen im Weg steht.
       
       Doch Moreno kommen bald Zweifel zu Protagonisten, die auf Bildern zur
       Geschichte auftauchen. Zu Protagonisten, die wiederum nicht fotografiert
       und gefilmt werden wollten. Moreno spricht mit der Dokumentation über seine
       Bedenken. Gestoppt werden Druck und Veröffentlichung aber nicht. Kurz
       danach wendet sich Moreno auch an die Ressortleitung.
       
       Relotius muss Fragen beantworten. „Er verteidigt sich auf ebenso brillante
       wie verschlagene Weise“, heißt es in der Spiegel-Rekonstruktion: „So
       eloquent antwortet er auf die Vorwürfe, und er gibt auf so perfekte Weise
       auch Imperfektionen in seiner Arbeit zu, dass plötzlich Moreno wieder wie
       ein Stänkerer aussieht.“
       
       ## Nicht das erste Mal
       
       Doch Moreno macht weiter. Er nutzt eine Recherchereise in die USA, auf der
       er eigentlich für eine Reportage über den Boxer Floyd Mayweather unterwegs
       ist, für seine Suche: „Er möchte Tim Foley besuchen“, schreibt Der Spiegel,
       „den Chef der Bürgerwehr Arizona Border Recon, und vielleicht auch Chris
       Maloof finden, den Mann in Tarnkleidung, der im Spiegel Jaeger heißt“, also
       den titelgebenden Protagonisten der Geschichte. Foley sagt, dass er
       Relotius nie gesehen habe. Und: „Maloof ist nicht Jaeger. Es gibt Jaeger
       nicht. Und Relotius ist weder dem einen noch dem anderen begegnet.“
       
       Irgendwann, so wird es beschrieben, scheint es dann zu viel zu sein.
       Relotius soll sich letzte Woche Donnerstag mit seinen Ressortleiter*innen
       und der Chefredaktion zusammengesetzt haben und Betrug zugegeben haben.
       
       Es ist nicht das erste Mal, dass ein Reporter seine Auftraggeber in großem
       Stil betrügt. [2][Im deutschsprachigen Raum ist vor allem der Fall Tom
       Kummer bekannt,] der Interviews mit Hollywood-Stars teilweise komplett
       erfunden hatte und unter anderem im SZ-Magazin und im Schweizer
       Tages-Anzeiger-Magazin veröffentlicht hatte. Im Jahr 2000 flog er auf. Die
       Chefredakteure des SZ-Magazins, Ulf Poschardt (heute Chefredakteur der
       Welt) und Christian Kämmerling, mussten daraufhin gehen.
       
       Auch die New York Times entlarvte einen Reporter, der Geschichten gefälscht
       und erfunden hatte. Im Mai 2003 hob die Zeitung diesen Skandal im eigenen
       Haus auf ihre Titelseite der Sonntagsausgabe. Daran, wie die New York Times
       den Fall damals aufgearbeitet hat, will sich nun auch der Spiegel
       orientieren, kündigte die Chefredaktion gegenüber den Mitarbeiter*innen des
       Medienhauses an.
       
       ## Hinweise werden geprüft
       
       Genau wie die NYT hat auch der Spiegel eine Mailadresse eingerichtet, unter
       der Hinweise zu Relotius’ Fälschungen gesammelt werden
       (hinweise@spiegel.de). Online sind bereits jetzt einige Texte aufgelistet,
       die von den Fälschungen betroffen sind. Bisher sei klar, [3][dass
       mindestens 14 der von ihm verfassten knapp 60 Texte im Spiegel und bei
       Spiegel Online zumindest in Teilen gefälscht seien,] heißt es bei Spiegel
       Online.
       
       Eine Kommission aus drei Personen, internen und externen, soll in den
       kommenden mindestens sechs Monaten alle Hinweise auf weitere Manipulationen
       prüfen. Sie soll Empfehlungen erarbeiten, wie solche Fälle in Zukunft zu
       vermeiden sind. Man wolle, so die Chefredaktion, den Fall absolut
       transparent aufarbeiten.
       
       Allerdings könnte womöglich nicht nur der Spiegel betroffen sein. Auch im
       Cicero, in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag, in der Welt, im
       SZ-Magazin, in der Schweizer Weltwoche, bei der Zeit, in der Frankfurter
       Allgemeinen Sonntagszeitung [4][und auch in der taz hat Relotius Texte
       veröffentlicht.] Auch die taz überprüft die veröffentlichten Artikel.
       
       Timm Klotzek, Chefredakteur des SZ-Magazins, lässt gerade zwei Interviews
       verifizieren, die Relotius für das Magazin in den USA geführt hat. Auch
       Klotzek will das Ergebnis der Überprüfung danach transparent machen. Das
       Reporter Forum, das jährlich den renommierten Reporterpreis vergibt, prüft
       derzeit, ob es Relotius seine Preise aberkennen wird.
       
       ## Enttäuscht und geschockt
       
       Man sei dabei, „die Jurorinnen und Juroren des Reporterpreises zu
       kontaktieren“, sagte Ariel Hauptmeier, einer der Organisatoren des
       Reporterpreises, am Mittwoch: „Sie werden darüber entscheiden, ob Relotius
       seine insgesamt vier Reporterpreise aberkannt werden, und ich habe keine
       Zweifel daran, wie ihr Urteil ausfallen wird.“
       
       Relotius’ Kollegen sind enttäuscht und geschockt. Relotius sei ein äußerst
       angenehmer Kollege gewesen, bescheiden und freundlich, sagen Leute, die ihn
       kennen. Mathieu von Rohr, der stellvertretende Chef des Auslandsressorts,
       twitterte, er sei „wütend, entsetzt, schockiert, fassungslos“.
       
       19 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-legt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html
   DIR [2] /Borderline-Journalist-Tom-Kummer/!5199749
   DIR [3] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/der-fall-claas-relotius-wie-das-spiegel-sicherungssystem-an-grenzen-stiess-a-1244593.html
   DIR [4] https://blogs.taz.de/hausblog/relotius/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne Fromm
   DIR Jürn Kruse
       
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