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       # taz.de -- „Serotonin“ von Michel Houellebecq: Gekränkte Männlichkeit
       
       > Der Autor Michel Houellebecq veröffentlicht einen neuen Roman. Sein
       > Protagonist könnte sowohl als Sexist als auch als Feminist gesehen
       > werden.
       
   IMG Bild: In der Einsamkeit der Normandie findet der Protagonist von Houellebecq nicht das Glück
       
       Ein Mann, weißer Franzose aus bürgerlichen Verhältnissen, Angestellter, 46,
       keine Kinder, unverheiratet, hat Depressionen und flüchtet sich in die
       Einsamkeit. Das Setting ist so gewöhnlich und so oft beschrieben, dass man
       zu Beginn des neuen Romans von Michel Houellebecq, „Serotonin“, überaus
       skeptisch ist, ob [1][der französische Bestsellerautor] ausgerechnet aus
       dem Stoff, aus dem nicht nur seine Romane, sondern Dutzende
       öffentlich-rechtliche Vorabendserien gemacht sind, noch mal was rausholen
       kann. Er kann.
       
       Der Protagonist heißt Flaurent-Claude, arbeitet im
       Landwirtschaftsministerium und beendet eine Beziehung feige, indem er
       spurlos verschwindet. Er kündigt Konto, Wohnung, Job und zieht aus Paris
       weg. In der Einsamkeit der Normandie findet er aber nicht das, was er
       sucht: das Glück. So mit sich allein kommen statt großen Glücksgefühlen
       erst mal Sexfantasien hoch, gefolgt von schmerzhaften Erinnerungen an
       verpasste Chancen, verflossene Lieben, das Versagen im Job und angesichts
       von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Missständen.
       
       Hoch kriegt Flaurent-Claude seinen Penis zwar schon noch, aber im Zuge der
       immer stärker werdenden Depressionen lässt er sich ein Antidepressivum
       verschreiben. Um wenigstens „Körperpflege, ein auf gute
       Nachbarschaftsverhältnisse beschränktes Sozialleben, simple Behördengänge“
       hinzubekommen, nimmt er dafür die Nebenwirkung des Medikaments in Kauf:
       Libidoverlust und Impotenz.
       
       Das mit dem Duschen kriegt er in der Folge gerade so hin. Er kann sich
       sogar aufraffen, zwei alte Bekannte zu treffen und schließlich wieder
       Hoffnung zu schöpfen; Hoffnung, weil er erkennt, dass Camille die einzige
       Frau war, die er je geliebt hat, und die ihn verließ, weil er eine Affäre
       hatte. Jetzt, einige Jahre später, hofft er, wiedergutmachen zu können, was
       er bereut.
       
       ## Sex und Fantasien
       
       Wie er im Folgenden versucht, sich ihr zu nähern, welche Vorsicht, welche
       Zukunfts- und Mordfantasien, welche Ängste, welche Scham, welche
       großherzige Einsicht dabei eine Rolle spielen und wie das Ganze ausgeht,
       ist umwerfend erzählt: die Intensität, die der Furor der Liebe erreicht;
       die Dynamik, die gekränkter Männerstolz entfacht, und die Brutalität, die
       individuelle Freiheit bedeuten kann – nämlich dass der eine eben anders
       entscheidet als man es selbst gerne hätte.
       
       Wenn der Mann sich an seine Geliebten erinnert, denkt er nicht nur an ihre
       Einrichtungs- und Ernährungsvorlieben, sondern auch an ihre sexuellen. Dass
       Houellebecq das schildert und diese Vorlieben von Dreier bis Sodomie
       ausführlich beschreibt, ist keine Provokation. Wenn es eine Provokation in
       diesem Buch gibt, dann besteht sie darin, von Sex und Fantasien zu
       erzählen, die wir alle kennen und die nicht immer ganz sauber sind, worüber
       wir aber nicht sprechen.
       
       Die Provokation besteht nicht in Flaurent-Claudes Verteidigung des Wortes
       „Muschi“ und auch nicht in der Beschreibung von Mösengrößen und deren
       Feuchtigkeitsgrad und Faltenwurf. Die Provokation besteht darin, zu
       suggerieren, dass es okay sein müsste, über die individuelle Beschaffenheit
       von weiblichen Geschlechtsteilen so offen, schnippisch, selbstironisch und
       unbekümmert zu reden wie über männliche Genitalien.
       
       Ich würde so gar noch weiter gehen und behaupten, es könnte sich dabei um
       einen feministischen Ansatz handeln. Einen, den ich auch in der Haltung des
       Protagonisten sehen könnte, der findet, dass „zur Klarheit der Diskussion“
       der Ausdruck „junge, feuchte Muschis“ besser geeignet sei, um auszudrücken,
       was Marcel Proust meint, wenn er von „erblühenden jungen Mädchen“ spricht.
       
       ## Der alte weiße Mann als Ekel
       
       Flaurent-Claude ist kein sabbernder, pädophiler Sexist, der Frauen nur als
       Sexarbeiterinnen im Weinberg des Herren betrachtet. Er findet solche Typen
       (im Roman ist es ein soziophober deutscher Ornithologe, der in einer
       Ferienwohnung Pornos mit Minderjährigen dreht) abstoßend. Dass er an dem
       Setting trotzdem voyeuristisches Interesse entwickelt, dass er den Schwanz
       einzieht und abhaut, anstatt den Täter zur Rede zu stellen oder ihn
       anzuzeigen, macht Flaurent zum Mitwisser und damit zum Mittäter.
       
       Der Roman aber bedient mit der Hauptfigur Flaurent-Claude gerade nicht die
       Vorstellung vom alten weißen Mann als Ekel, das in der einen Hand die
       Bierflasche und in der anderen Hand den eigenen Penis hält, während er im
       Fernseher Fußball, Polittalk oder Tierdoku und in jedem jungen Mädchen nur
       eine zu fickende Muschi sieht.
       
       Flaurent-Claude ist eine Figur, die sich ihrer Unzulänglichkeiten und ihrer
       Männerfantasien bewusst ist, ihnen teilweise erliegt, aber auch dagegen
       kämpft. Er schießt am Ende nicht, obwohl er sich in der Rolle des echten
       Kerls, der über Leben und Tod entscheidet, gern gefallen würde. Er ist eine
       Figur, die der Puritanisierung der Gesellschaft und der EU die Mitschuld an
       der eigenen Misere gibt. Er ist aber auch eine Figur, deren lakonischer Ton
       einem vor Lachen und Tristesse die Tränen in die Augen treiben.
       
       Da ist der tägliche Kampf gegen das Rauchverbot, weshalb er Rauchmelder in
       Hotelzimmern manipuliert. Da ist der Psychiater, der als Alternative zu den
       Antidepressiva Nutten in Thailand oder einfach gleich Morphium empfiehlt.
       Da ist die Erkenntnis, dass das Sprechen zwischen Liebenden überschätzt
       wird, da außerhalb von Fragen nach dem Garagenschlüssel oder dem
       Elektrikertermin das Reich der Debatte beginne, ergo Streit, Entliebung,
       Scheidung. Und da ist aber auch große Erzählkunst, wenn die Beklemmung, die
       Scham, die Unfähigkeit zu spüren ist in der Szene, in der Flaurent-Claudes
       Freund Aymeric ihm gestehen muss, dass seine Frau ihn verlassen hat.
       
       ## Politische Radikalisierung
       
       Aymeric wollte nicht werden, was sein Vater ist: ein dekadenter Adeliger,
       der nur geerbt, nichts erschaffen, aber dafür alles versoffen hat. Aber
       obwohl Aymeric Landwirt wurde, sich „zu Tode geschuftet“ hat, schafft er es
       nicht, seine Familie zu ernähren – weil die EU-Politik der Milchquoten die
       Preise in den Keller treibt, glaubt er. Aymeric wird zur Galionsfigur der
       militanten Proteste der Landwirte gegen diese Politik.
       
       Ob Houellebecq damit, wie von französischen Medien interpretiert, die
       Gelbwesten-Bewegung vorausgesagt hat, sei dahingestellt. Klar ist, dass die
       politische Radikalisierung in Houellebecqs Roman zwar auch als Folge
       wirtschaftlicher Misere, aber mindestens ebenso sehr als Folge von
       Liebeskummer, Trennungsschmerz und gekränkter Männlichkeit dargestellt
       wird. Die am Ende des Romans gestellte Frage – Sind wir Illusionen von
       individueller Freiheit, von einem offenen Leben, von unbegrenzten
       Möglichkeiten erlegen? – ist die Frage danach, ob individuelle Freiheit
       auch zu individuellem Glück führt. Eine Frage, die nicht beantwortet ist
       und auf die man nur sagen kann: Ich hoffe doch.
       
       Der Roman hat so etwas wie ein Vorspiel und ein Nachspiel. Beides beginnt
       mit dem Satz „Es ist eine kleine weiße ovale, teilbare Tablette.“ Im
       Nachspiel heißt es dann weiter: „Sie erschafft nichts, und sie verändert
       nichts; sie interpretiert.“ Die Tablette ist das Antidepressivum, und man
       kann darüber zunächst sehr lachen, auch wegen der Anspielung auf ihre Form.
       
       Man kann den Satz aber auch als Paraphrase auf [2][Karl Marx’ 11.
       Feuerbachthese] lesen („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden
       interpretiert. Es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“). Und auch kann
       man ihn als Paraphrase auf das „Hohelied der Liebe“ aus dem ersten Brief an
       die Korinther des Apostels Paulus lesen: „Die Liebe ist langmütig, die
       Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich
       nicht auf … Für jetzt bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung.“
       
       [3][Alle drei spielen eine große Rolle in Houellebecqs Roman.] Es wäre also
       nicht allzu provokant, würde man „Serotonin“ als paulinisches Manifest
       lesen: Die Ära von Houellebecqs Protagonisten Flaurent-Claude geht zu Ende
       – hoffen wir, dass danach ein besseres Exemplar von ihm erscheint.
       
       6 Jan 2019
       
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