URI: 
       # taz.de -- Nachruf auf Wolfgang Pohrt: Abweichler, Rechthaber, Analytiker
       
       > Am Freitag ist der Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt gestorben. Er
       > hinterlässt mehr Feinde als Freunde. Das hätte ihm gefallen.
       
   IMG Bild: Ein Bild, das Pohrt zu deuten gewusst hätte wie kaum ein anderer: Chemnitz im August 2018
       
       Der erste Auftritt Wolfgang Pohrts in der Öffentlichkeit war gleich ein
       Paukenschlag. Im Dezember 1980 veröffentlichte er im Spiegel [1][einen
       Verriss des sehr erfolgreichen Buches] „Wer soll das alles ändern“ von
       Joseph Huber, Mitbegründer des „Netzwerk Selbsthilfe“, über die
       Alternativbewegung. Pohrt wies dem gutmeinenden Joseph Huber
       Gedankenlosigkeit, nazistische Implikationen, Stammtischgerede und
       Sachzwangjargon nach.
       
       Die linksliberale Intelligenz reagierte sofort: Robert Jungk assoziierte
       beim „wüsten Anschlag“ Pohrts das „Attentat gegen John Lennon“, Rudolf
       Bahro bezeichnete Pohrt als „linken Reaktionär“ und Johano Strasser
       unterstellte ihm „neurotischen Vernichtungswillen“, was nicht wenig ist für
       einen Mann, der nur seine Schreibmaschine im Anschlag hat.
       
       Man wurde hellhörig, weil für jeden, der lesen konnte, die Polemik nicht
       nur beneidenswert gut geschrieben war, sondern Pohrt sich auch die Mühe
       machte, präzise zu begründen, was falsch und schief war an den Argumenten
       der Alternativen, der Friedensbewegung, der Grünen, der Linken und der
       Bürgerlichen.
       
       Der 1945 geborene Pohrt hatte in Berlin und Frankfurt Soziologie,
       Politologie und Psychologie studiert und bei Adorno Vorlesungen besucht. Er
       hatte Marx, Hannah Arendt, Günther Anders, Horkheimer, Benjamin, Krahl,
       Ambler, Balzac u.a. gelesen und nahm sie nicht nur wie andere als Beleg zur
       Absicherung der eigenen Argumente, sondern wendete sie auch produktiv an.
       
       Er war zwar durch die Protestbewegung sozialisiert, aber er war weder für
       eine der K-Gruppen anfällig noch für die Alternativbewegung. Vielmehr
       beobachtete er in den siebziger Jahren genau den Zerfallsprozess der
       68er-Revolte und begann so genannte „Schubladentexte“ über die
       Kollateralschäden der Protestbewegung zu verfassen.
       
       1980 beendete er eine ihn nur frustrierende Unikarriere und arbeitete
       stattdessen als freier Journalist und Vortragsreisender. Und das mit
       Erfolg, denn überall, wo er auftrat oder publizierte, blieben Proteste
       nicht aus.
       
       ## Die „nationale Erweckungsbewegung“
       
       In einem Interview [2][sagte Pohrt einmal]: „Die Leute sagen mir, was sie
       denken, und ich sage ihnen, warum es falsch ist.“ Das war keine Hybris,
       sondern sein Ansatz als Ideologiekritiker, als den sich Pohrt in den
       achtziger Jahren begriff. Da sich aber niemand gern Denkfehler nachweisen
       ließ, gehörte Pohrt zusammen mit Eike Geisel und Christian Schultz-Gerstein
       bald zu den meist gehassten Kritikern in der Republik.
       
       Als im Oktober 1981 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die NATO
       demonstrierten, kritisierte Pohrt als erster die Friedensbewegung in der
       taz und in der Zeit (Konkret hatte abgelehnt) als „nationale
       Erweckungsbewegung“ und erinnerte daran, dass der allseits verhasste
       US-amerikanische „Kulturimperialismus“ in Deutschland „nicht die Barbarei,
       sondern die Zivilisation“ gebracht habe. Er spitzte dieses Argument mit der
       lustigen Bemerkung zu, die damals in der kulinarischen Einöde Deutschlands
       durchaus plausibel war: „In diesem Land ist jede weitere Filiale der
       McDonald-Hamburger-Kette eine neue Insel der Gastfreundschaft und eine
       erfreuliche Bereicherung der Eßkultur.“
       
       Zeit und taz wurden mit empörten Leserbriefen bombardiert, was zumindest
       der Zeit eine Lehre war, denn Pohrt war dieser Publikationsort von nun an
       verschlossen. Und auch wenn Josef Joffe, André Glucksmann, Henryk Broder,
       Dietmar Dath, Hans Magnus Enzensberger oder auch Sophie Rois, Eckhard
       Henscheid und Wiglaf Droste sich hier und da von Pohrts Arbeiten begeistert
       zeigten, war er für den linken Mainstream ein rotes Tuch, da er nicht
       aufhörte, schon frühzeitig den linken Antisemitismus und die nationale
       Identität zu zerpflücken und sich in die großen Kulturbetriebsdebatten
       einzumischen.
       
       ## „Geschäftsaufgabe als Ideologiekritiker“
       
       Pohrt hat wie kein anderer „Erhellendes über das KZ-Universum geschrieben“
       (Lothar Baier), er legte die Motive der RAF und ihrer Anhänger genauso
       offen wie er für eine Amnestie der Gefangenen eintrat, er machte sich über
       Sloterdijks „Schrebergärtnerphilosophie“ lustig, bezeichnete die
       Hausbesetzerbewegung als „Rebellion der Heinzelmännchen“ und verfolgte den
       Weg des Kursbuch in „die neudeutsche Klebrigkeit“. Er fällte ebenso lustige
       wie vernichtende Urteile über die deutschen Großschriftsteller und schrieb
       gleichzeitig grandiose Essays über Balzac und die Figur des modernen
       Flüchtlings bei Eric Ambler.
       
       1989 schließlich verkündete er die „Geschäftsaufgabe als
       Ideologiekritiker“, weil er einsehen musste, dass man „in der BRD in eine
       Phase eingetreten war, in der es kein falsches Bewusstsein, sondern die
       Absenz jeden Bewusstsein überhaupt gibt.“ Die Republikaner waren ins
       Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen und Pohrt verlor die Lust, den
       Kulturbetrieb weiterhin mit Feuilletons zu beliefern.
       
       Im Auftrag Jan Philipp Reemtsmas machte sich Pohrt für das Hamburger
       Institut an die soziologische Erforschung des Massenbewusstseins der
       Deutschen mit dem methodischen Handwerkszeug, das Adorno und Horkheimer in
       „The Authoritarian Personality“ verwendet hatten. Er traute den autoritär
       strukturierten Deutschen einiges zu, und wie sich in Rostock-Lichtenhagen
       zeigte, hatte er auch da recht. In den Neunzigern publizierte Pohrt fast
       nur noch in Konkret, verabschiedete sich aber nach dem für ihn enttäuschend
       verlaufenen Konkret-Kongress 1993 immer mehr von der Linken und ihren
       Debatten, hielt sich mit wissenschaftlichen Jobs über Wasser und verstummte
       2004 nach dem Tod seiner Frau ganz.
       
       Erst 2011 meldete er sich noch einmal mit zwei schmalen Diskussionsbändchen
       „Kapitalismus Forever“ und „Das allerletzte Gefecht“ zu Wort, die noch
       einmal erregte Kommentare auslösten und mit denen er seine letzten Anhänger
       ratlos zurückließ, was auch immer seine erklärte Absicht war. 2014
       schließlich zog er sich nach einem Schlaganfall ganz zurück, an dessen
       Folgen er am Freitag gestorben ist.
       
       22 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338691.html
   DIR [2] https://edition-tiamat.de/werke-band-5-2/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Bittermann
       
       ## TAGS
       
   DIR Wolfgang Pohrt
   DIR Ideologiekritik
   DIR Soziologie
   DIR 68er
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Jürgen Habermas
   DIR Theodor W. Adorno
   DIR Buch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ende des Hamburger Reemtsma-Instituts: Harter Schlag für Königsdisziplin
       
       Das Hamburger Institut für Sozialforschung ist von herausragender
       Bedeutung. Nun möchte es sein Gründer und Stifter Jan Philipp Reemtsma
       schließen.
       
   DIR Verleger über Lebenswerk: „Ich wollte der Radikalste sein“
       
       Erst Ministrant, dann Marx: Eckpfeiler der politischen Sozialisation von
       Klaus Bittermann. Seit Jahren verlegt er Bücher, die Lust aufs Denken
       machen.
       
   DIR Eine besondere Beziehung: Die Freundschaft nach dem Schuss
       
       Im November 1977 schießen RAF-Terrorist Christof Wackernagel und Polizist
       Herman van Hoogen aufeinander. Jahre später werden sie Freunde.
       
   DIR Hans Magnus Enzensberger wird 90: Artistischer Argumentator
       
       Der Vielseitigste von allen: Ein Geburtstagsgruß an den Schriftsteller und
       Intellektuellen Hans Magnus Enzensberger.
       
   DIR Adorno-Vorlesung in Frankfurt: Kritik begründen
       
       Vor 50 Jahren starb Adorno. Anlässlich seines Todestags geht es in
       Frankfurt um den Einfluss des Philosophen auf die heutige
       Geisteswissenschaft.
       
   DIR Elf Bände von Wolfgang Pohrt: Wunderbar, dieses Kapital
       
       Er kritisierte den Antisemitismus der Linken und las zuletzt Marx gegen die
       Marxologen. Nun erscheinen die gesammelten Werke Wolfgang Pohrts.
       
   DIR "Konkret"-Jubiläum: Das Gewissensmagazin
       
       Sie war Studentenblatt, APO-Sprachrohr und Politsex-Magazin. Die
       Zeitschrift "Konkret" wird 50 - und ist im Alter Zentralorgan der
       Antideutschen.