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       # taz.de -- Neue Graphic Novel von Marion Fayolle: Beim Tanz der fliegenden Körperteile
       
       > Die französische Bildgeschichte „Die schwebenden Liebenden“ nimmt sich in
       > oft surrealer Weise der ewigen Geschichte zwischen Mann und Frau an.
       
   IMG Bild: Tanzszene aus der Graphic Novel „Die schwebenden Liebenden“ von Marion Fayolle
       
       Schon auf Seite eins geht es los mit dem Tanz. Ein junges Ehepaar tanzt vor
       einer weiten Landschaft, was durch die Präzision der Zeichnungen an
       Schrittfolgen für Tanzanfänger erinnert. Da taucht eine weitere Frau auf,
       worauf sich nach einigem Hin und Her zwischen den beiden Frauen der
       Unterkörper des Mannes selbstständig macht und auf die zweite zubewegt.
       Doch die Ehefrau fängt den abtrünnigen Körperteil wieder ein und rückt ihn
       an den rechten Platz, damit der Tanz weitergehen kann. Es wird klar: dieser
       Mann liebt seine Frau, begehrt aber auch viele andere…
       
       In der Graphic Novel „Die schwebenden Liebenden“ der Französin Marion
       Fayolle beginnen die Figuren immer wieder unvermittelt zu tanzen und zu
       singen, wobei die Songtexte stets die Handlung kommentieren. Man fühlt sich
       erinnert an die Filme von Jacques Demy aus den Sechzigern („Die
       Regenschirme von Cherbourg“), in denen – als Hommage an ältere US-Musicals
       – ebenso selbstverständlich mitten im Geschehen gesungen und getanzt wurde.
       
       Doch Fayolles Buch ist hermetischer als Demys die gesellschaftliche
       Realität widerspiegelnde Filme. Bei ihr gibt es keine äußere Handlung außer
       dem Beziehungs- und Gefühlsgeflecht, das sie auf heitere Weise anstimmt und
       in sechs Kapiteln – oder besser: Akten – auffächert. Ein Mann und eine Frau
       – auf Namen wird komplett verzichtet – sind glücklich verheiratet, jedoch
       scheint die bereits eingesetzte Routine die Beziehung zu belasten.
       
       ## Sehnsucht nach anderen Frauen
       
       Nach der ersten Szene geht das Paar schlafen, und nun beginnt die
       eigentliche Geschichte, indem ganz die Perspektive des Mannes eingenommen
       wird, der von seiner Sehnsucht nach anderen Frauen spricht und jener Zeit
       des ersten Verliebtseins, die er als besonders beglückend empfindet. Der
       Mann sucht nun Kontakt zu drei Frauen unterschiedlichen Typs – verkürzt
       gesagt: ein weiblicher Don Juan, eine Intellektuelle und eine schwache,
       hilfsbedürftige – und flirtet mit ihnen, ohne es mit der Nähe allzu weit zu
       treiben.
       
       Trotzdem kommt es zu Komplikationen. Am Ende treten alle drei Frauen in
       einem Theaterstück auf, das der Protagonist für sie geschrieben hat.
       
       Die 30-jährige Illustratorin Marion Fayolle treibt ein raffiniertes,
       frivoles Spiel mit ihren Figuren, das die LeserInnen sofort gefangen nimmt
       und subtil dahin führt, ihre eigene Position zu den aufgeworfenen Fragen zu
       überprüfen. Als Hauptfigur hat sie zwar einen Mann gewählt – zugleich ein
       Schriftsteller und Tagebuchschreiber –, jedoch verurteilt sie sein
       Schürzenjäger-Verhalten nicht, lässt die Figuren selbst sprechen.
       
       ## Visualisierte Gefühle – theatralische Sprache
       
       Fayolle zeichnet ihre Charaktere bewusst auf nahezu entindividualisierte
       Weise: Alle haben annähernd die gleiche, schlanke Figur und schematische,
       fast ausdruckslose Gesichter – man kann sie nur durch Frisur, Haarfarbe
       oder Kleidung voneinander unterscheiden. So entsteht der Eindruck eines
       Schauspiels, einer Versuchsaufstellung, bei der die Geschlechter
       miteinander ringen und ihre Gefühle direkt visualisiert werden. Die Sprache
       ist theatralisch, klingt – bei stets mitschwingender Ironie – literarisch
       hochgestochen, auch weil sich die Figuren siezen und in poetischen Bildern
       sprechen.
       
       Der flächige Zeichenstil unterstreicht den theatralischen Eindruck: Figuren
       bewegen sich meist vor einfarbigen, schraffierten Flächen, gelegentlich
       wird eine reduzierte Kulisse – Wald, See oder Zimmer – angedeutet. Man
       glaubt, in ein Papiertheaterstück geraten zu sein, wie es im 19.
       Jahrhundert beliebt war, das jedoch in stark abstrahierter Optik
       daherkommt.
       
       Auf jeder Seite lauern verblüffende, surreale Einfälle, die oft Wortspiele
       und Redensarten visualisieren: Während sich etwa der Protagonist mit seiner
       Frau unterhält, spaltet sich ein Ich von ihm ab und geht auf eine zweite
       Frau zu, ein weiteres Ich auf eine dritte, bis die ganze Seite von
       Doppelgängern wimmelt. Figuren verblassen, wenn man sich von ihnen
       abwendet, verlieren ihre Köpfe oder fallen ganz in sich zusammen, müssen
       dann vom Mit-Spieler „liebevoll“ zusammengesetzt werden.
       
       Oder es tauchen aus dem Nichts zwei Musiker auf, die zwei gerade im
       Wortgefecht befindliche Personen zusammenstauchen, zu Akkordeons
       umfunktionieren und sie wieder auseinanderziehen, um ein Lied anzustimmen.
       
       ## Erotische Fantasien – neurotische Verhaltensweisen
       
       Dieses Gedankenspiel über Paarbeziehungen, erotische Fantasien und
       neurotische Verhaltensweisen hat Marion Fayolle erfrischend originell und
       leichtfüßig in zarten Pastelltönen inszeniert. Ihre Bildsprache verzichtet
       auf elegante Weise auf eine herkömmliche Panel-Gliederung und findet neue,
       fließende Seitenaufteilungen. Ihren Erzählstil hat sie bereits mehrfach
       erprobt, weniger Comics als illustrierte Bücher waren das, sie sind bislang
       nicht ins Deutsche übersetzt.
       
       In „L’homme en pièces“ („Der Mann in Stücken“, 2011) hat sie schon einmal
       Mann-Frau-Beziehungen auf ähnliche Weise analysiert, und in „La trendresse
       des pierres“ („Die Zärtlichkeit der Steine“) 2012 das Sterben ihres Vaters
       auf poetische Weise verarbeitet. Mit dieser federleichten wie tiefsinnigen,
       auf dem letzten Comicfestival in Angoulême ausgezeichneten Graphic Novel
       setzt Marion Fayolle ihre grafisch innovative Erzählweise konsequent fort.
       
       25 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
   DIR Graphic Novel
   DIR Marion Fayolle
   DIR Paarbeziehungen
   DIR Erotische Fantasien
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Comic
       
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