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       # taz.de -- Verhandlung über Hartz-IV-Sanktionen: Der Staat will kürzen können
       
       > Können beim Existenzminimum Abstriche gemacht werden? Das
       > Verfassungsgericht verhandelt, ob Hartz-IV-Sanktionen grundgesetzwidrig
       > sind.
       
   IMG Bild: Sind Sanktionen verfassungswidrig? Das Verfassungsgericht muss entscheiden
       
       Karlsruhe taz | Sozialminister Hubertus Heil (SPD) freut sich schon auf das
       Urteil des Bundesverfassungsgerichts. „Nach einer Debatte, die mit
       maximaler Härte geführt wurde, herrscht dann endliche Rechtsfrieden“, sagte
       er am Dienstag in Karlsruhe. Dort verhandelten die Richter über die Frage,
       ob Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
       Bisher drohen Kürzungen, wenn etwa ein Termin im Jobcenter verpasst oder
       eine zumutbare Arbeit abgelehnt wird.
       
       Anlass der Verhandlung war ein Fall aus Erfurt. Einem ausgebildeten
       Lagerarbeiter war ein Job im Lager des Online-Versandhandels Zalando
       angeboten worden. Der Mann wollte aber lieber im Verkauf arbeiten.
       Daraufhin kürzte ihm das Jobcenter Erfurt für drei Monate die
       Hartz-IV-Leistungen. Als es ihm später eine Erprobung im Verkauf
       ermöglichte, nahm der Mann den Gutschein nicht wahr. Wieder wurde sein
       Arbeitslosengeld 2 gekürzt, diesmal um 60 Prozent, weil es sich um einen
       Wiederholungsfall handelte.
       
       Das Sozialgericht Gotha legte den Fall 2016 in Karlsruhe vor. Der
       zuständige Richter Jens Petermann, ein Ex-Bundestagsabgeordneter der
       Linken, hielt die Sanktionsmöglichkeiten generell für verfassungswidrig.
       Vom Existenzminimum seien keine Abstriche möglich, auch nicht bei der
       Verletzung von Mitwirkungspflichten.
       
       Sozialminister Heil verteidigte in Karlsruhe die 2005 eingeführten
       Hartz-IV-Reformen mit ihrer „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik: „Wir
       wollen Arbeitslosigkeit nicht verwalten, sondern überwinden.“ Der
       Sozialstaat müsse die Möglichkeit haben, zumutbare Mitwirkungspflichten
       einzufordern. „Ohne Kürzungsmöglichkeit würde die Regelung leerlaufen.“
       Tatsächlich seien von knapp 6 Millionen Hartz-IV-Beziehern aber nur rund 3
       Prozent von Sanktionen betroffen. Das wären etwa 200.000 Personen.
       
       Der Anwalt der Bundesregierung, Ulrich Karpenstein, wies die Argumentation
       des Sozialgerichts Gotha zurück. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges
       Existenzminimum sei ein eigenständiges Grundrecht neben der Menschenwürde.
       Anders als bei der Menschenwürde seien hier auch gesetzliche
       Einschränkungen möglich. Die Sanktionen seien bei Pflichtverletzungen zudem
       gerechtfertigt, da das Menschenbild des Grundgesetzes von
       Eigenverantwortung und vom „Vorrang der Selbsthilfe“ ausgehe. Wer die
       Mitwirkung verweigere, könne deshalb nur bedingt vom Staat Hilfe erwarten.
       
       ## Das „unerlässliche Existenzminimum“?
       
       „Der Staat lässt aber niemand verhungern, der seinen Mitwirkungspflichten
       nicht nachkommt“, betonte Regierungs-Anwalt Karpenstein. Auch
       [1][Obdachlosigkeit müsse verhindert werden]. Das „Unerlässliche“ müsse der
       Staat immer gewähren, sonst seien Sanktionen nicht verhältnismäßig. In der
       Praxis geben Jobcenter an Betroffene zum Beispiel Lebensmittelgutscheine
       aus. Dies ist auch im Gesetz vorgesehen.
       
       Die Verfassungsrichter zeigten sich dennoch irritiert. „Was ist denn der
       Unterschied zwischen dem Existenzminimum und dem unerlässlichen
       Existenzminimum“, fragte etwa Richter Andreas Paulus.
       
       Susanne Böhme, die Anwältin des Erfurter Lageristen, machte darauf
       aufmerksam, dass von den Sanktionen nicht nur die Arbeitslosen selbst
       getroffen werden, sondern auch Personen in der Bedarfsgemeinschaft: „In
       jedem dritten Fall sind auch minderjährige Kinder die Leidtragenden, obwohl
       sie ja keine Pflichten verletzt haben.“
       
       Friederike Mussgnug von der Diakonie Deutschland sagte: „Bei den
       Pflichtverletzungen handelt es sich oft nicht um Verweigerung, sondern um
       Überforderung.“ Es gehe um persönliche Krisen, Konflikte in der Familie,
       Depressionen und andere psychische Krankheiten. Viele Arbeitslose seien
       auch mit der Mitwirkung in einem Verwaltungsverfahren überfordert. „Das
       sind Menschen, die sich nicht ausdrücken können, nicht Menschen, die sich
       drücken.“
       
       ## Kein Ermessen bei den Sanktionen
       
       Der zweite Regierungsanwalt, Matthias Kottmann, verwies dagegen auf die
       Statistik der Bundesagentur für Arbeit. „Statistisch am häufigsten sind von
       Sanktionen junge Männer mit Hauptschulabschluss auf dem Land in
       Westdeutschland betroffen“, so Kottmann. Es gebe also „keine Schieflage
       zulasten besonders verletzlicher Gruppen“. Personen ohne Schulabschluss
       würden unterdurchschnittlich häufig sanktioniert, ebenso Ausländer und
       Alleinerziehende. Zu psychisch Kranken gebe es keine Statistik, aber eine
       repräsentative Befragung habe ergeben, dass in nur 3 Prozent der Fälle
       psychische Probleme der Grund für eine Pflichtverletzung waren.
       
       Die federführende Verfassungsrichterin Susanne Baer deutete an, dass die
       bisher starre Ausgestaltung der Sanktionen ein Problem sein könnte. Das
       Jobcenter habe kein Ermessen. Die Kürzung müsse immer drei Monate dauern,
       sogar wenn die Pflicht inzwischen erfüllt wurde.
       
       Das Urteil wird in einigen Monaten verkündet.
       
       15 Jan 2019
       
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