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       # taz.de -- 50 Jahre Prager Frühling: Die menschliche Fackel
       
       > Vor 50 Jahren zündete sich Jan Palach auf dem Wenzelsplatz an. Heute
       > haben in der tschechischen Hauptstadt die Wendehälse das Sagen.
       
   IMG Bild: Gedenken an Jan Pallach, Prag am 16. Januar 2019
       
       Es war ein feuchter, grauer Wintertag, als Jan Palach beschloss zu sterben.
       Dabei war es noch nicht mal ein Jahr her, dass das Leben des 20-jährigen
       endlich die richtigen Bahnen eingeschlagen hatte.
       
       Die [1][Reformen des Prager Frühlings] hatten es ihm, den das
       stalinistische Regime zuvor als Bürgersohn verpönt hatte, ermöglicht, sich
       an der Karlsuniversität einzuschreiben, um sein Traumfach Geschichte zu
       studieren. Mit großem Elan stürzte sich Palach in sein neues Leben an der
       Philosophischen Fakultät am Prager Moldauufer.
       
       Der ernsthafte junge Mann engagierte sich im akademischen Rat und malte
       sich seine Zukunft aus. Sein Studium hatte ihm völlig neue Möglichkeiten
       eröffnet und vielleicht würde er bald seine Helenka heiraten, seine
       Freundin, die er schon aus gemeinsamen Sandkastentagen in Vsetaty kannte.
       Doch dann, in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 kamen die Panzer
       aus dem Osten und machten alles kaputt.
       
       Knapp fünf Monate später steht Jan Palach am oberen Ende des Prager
       Wenzelsplatzes und blickt auf das mächtige Reiterstandbild des Heiligen
       Wenzel. Der böhmische Schutzheilige, so die Legende, würde schon
       eingreifen, wenn es schlecht um die tschechische Nation bestellt sei. Doch
       wie viel schlimmer musste es noch kommen? Innerhalb weniger Monate hatten
       sich die Tschechen mit der Besatzung abgefunden, sie sogar politisch per
       Beschluss legitimiert.
       
       Unter dem grauen Schleier der Normalisierung, der seit der Zerschlagung des
       Prager Frühlings über dem Land lag, hatte sich Apathie breit gemacht. Aber
       Jan Palach wollte sich nicht abfinden. Nicht mit der Besatzung und erst
       recht nicht mit der Gleichgültigkeit, mit der seine Mitmenschen ihr
       begegneten. Hatte etwa jemand gegen die Wiedereinführung der Zensur
       protestiert? Gegen die Propaganda, die die Zprávy, das Presseorgan der
       Besatzer, im Land verbreitete? Nicht einmal die Studenten wehrten sich
       gegen die schleichenden Signale der Totalität.
       
       ## 29 Versuche der Selbstverbrennung
       
       Im November 1968 hatte Palach in einem Brief an seine Studentenvereinigung
       gefordert, aus Protest gegen die Zensur das Rundfunkgebäude hinter dem
       Wenzelsplatz zu besetzen und einen Generalstreik auszurufen. Als er nicht
       einmal eine Antwort erhielt, beschloss er, die Gesellschaft selbst
       wachzurütteln. Irgendjemand musste es ja machen.
       
       Es war gegen kurz nach halb Vier an diesem hässlichen Januartag, als Jan
       Palach vor dem Heiligen Wenzel stand und eine Flasche Äther öffnete. Damit
       rieb er sich, wie ein Passant später bezeugte, erst das Gesicht ein. Den
       Rest trank er aus. Dann öffnete er zwei Kunststoffeimer, die er in einer
       Tankstelle in der Nähe mit Benzin hatte füllen lassen. Das goss er über
       sich und zündete ein Streichholz an. „In dem Moment wurde er zu einer
       einzigen, laufenden Fackel“, beschreiben Zeugen die Tat.
       
       Palach ist noch bei vollem Bewusstsein, als er in ein nahe gelegenes
       Krankenhaus gebracht wird, er macht auf seine Forderungen aufmerksam: die
       augenblickliche Abschaffung der Zensur und ein Verbot der Verbreitung der
       Okkupantenschrift Zpravy. Er sei nur Fackel Nummer Eins, schreibt Palach in
       seinem Brief. Weitere würden folgen.
       
       Drei Tage später, am 19. Januar 1969 stirbt Jan Palach. Der Tod kommt nicht
       barmherztig, Palach stirbt bei vollem Bewusstsein und unter großen
       Schmerzen. Man solle es ihm nicht nachtun, warnt Palach potentielle weitere
       Fackeln vom Totenbett aus. Dennoch: zwischen dem 16. Januar und Ende April
       1969 kommt es in der ČSSR zu 29 Versuchen der Selbstverbrennung. Zwei davon
       enden tödlich.
       
       ## Generalprobe der Samtrevolution
       
       Doch es ist Fackel Nummer Eins, die als kleine Flamme zumindest in einem
       Teil der Gesellschaft weiterlodert. Sie flackert zwanzig Jahre später
       wieder auf, als Gedenkveranstaltungen anlässlich Palachs Selbstverbrennung
       [2][zu Protesten und Demonstrationen], wie sie die Tschechoslowakei seit
       Niederschlagung des Prager Frühlings nicht mehr gesehen hatte.
       
       Mehr noch: die brutale Reaktion, in der das Regime die Proteste
       niederknüppeln lässt, bringen den tschechoslowakischen Dissens aus dem
       Schatten der polnischen Solidarnosc und den ungariscen Reformkommunisten
       hervor ins in internationale Bewusstsein. Die Palach-Woche, als die die
       Unruhen vom Januar 1989 in die tschechische Geschichte eingingen, gilt als
       Generalprobe der Samtrevolution, die das kommunistische Regime zehn Monate
       später stürzen sollte
       
       Das realsozialistische Regime ist aber nicht an Märtyrern wie an Jan Palach
       zerbrochen. Sondern an der eigenen Unzulänglichkeit. Die Gleichgültigkeit,
       aus der Palach wachrütteln wollte, hat es aber überlebt. Es sind nicht die
       Dissidenten von damals, die heute die Geschichte Tschechiens schreiben.
       [3][Es sind die Wendehälse]. Die, die dank der gesellschaftlichen Apathie,
       die Palach zu seinem Opfer zwang, Karriere gemacht haben.
       
       ## KP als führende Kraft der tschechischen Linken
       
       Am 50. Jahrestag von Palachs Selbstverbrennung ist Tschechien ein
       gespaltenes Land, das regiert wird von einem ehemaligen Spitzel der
       kommunistischen Staatssicherheit. Der wird zudem beschuldigt, als
       Unternehmer EU-Fördergelder missbraucht zu haben, frei nach der informellen
       Losung: „Wer nicht den Staat bestiehlt, bestiehlt die eigene Familie“. Die
       Kommunistische Partei fungiert derweil als graue Eminenz der
       Regierungsbildung und definiert sich als führende Kraft der tschechischen
       Linken.
       
       Sie wurden aber nicht, wie die Normalisierungskommunisten der späten 1960er
       von ausländischen Panzern installiert. Sondern in freien Wahlen von einer
       Mehrheit der Bevölkerung an die Macht gebracht, als Manifestation dessen,
       dass die gleichgültige Mentalität der Normalisierungsjahre bis heute die
       tschechische Politik und Gesellschaft dominiert. Die Reden, Debatten und
       Gedenkveranstaltungen mit denen dieser Tage an Jan Palach und seine
       Selbstverbrennung erinnert wird, bergen vor allem eine bittere Erkenntnis:
       sein Opfer war umsonst.
       
       19 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Alexandra Mostyn
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