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       # taz.de -- Italienische Arte-Serie „Ein Wunder“: Wenn die Mutter Gottes Blut weint
       
       > Die Mysterie-Serie „Ein Wunder“ verwebt italienische Komödie und
       > Politthriller. Dabei übt sie eine radikale Gesellschaftskritik.
       
   IMG Bild: Geraten auch unter Druck: Präsidentengattin Sole (Elena Lietti) und ihre Tochter
       
       Es gehört zur Tradition der Schauergeschichte, das Publikum auf falsche
       Fährten zu setzen. „Kunstvoll und arglistig“ weichen ihre Macher einer
       entscheidenden Aufklärung bis zum Ende aus, schrieb Sigmund Freud dazu in
       seiner Studie „Das Unheimliche“, um im Weiteren das Lebenselixier aller
       „mit dem Wunderbaren liebäugelnder Produktionen“ überhaupt offenzulegen –
       nämlich „neue Möglichkeiten des unheimlichen Gefühls“ zu erschaffen.
       
       Die überbordende Mystery-Kulturindustrie, zu der insbesondere die
       Streamingdienste beitragen, hat dabei mit Freud gesprochen zwei
       Möglichkeiten: Nämlich das Unheimliche aus dem vermeintlich kulturell
       Überwundenen der Frühzeit menschlicher Gesellschaften entstehen zu lassen
       oder aus persönlichen Affekten, die „durch die Verdrängung in Angst
       verwandelt“ werden.
       
       So eindeutig allerdings lassen sich die beiden Mechanismen im Achtteiler
       „Ein Wunder – Das Unheimliche im Heiligen“, nicht voneinander absetzen. Die
       Serie, die Arte derzeit ausstrahlt und die bis Ende Februar auf der
       Webseite des Senders abrufbar ist, spielt in einer italienischen nahen
       Zukunft. [1][Eine Razzia bei einem Mafia-Boss] fördert eine Statue der
       Madonna zutage, die so unaufhörlich wie unerklärlich Blut weint – echtes,
       menschliches Blut.
       
       Carabinieri-General Votta sichert das billige Plastikding in einem unter
       Beschlagnahme stehenden Schwimmbad in Rom und verständigt den amtierenden
       Ministerpräsidenten Pietromarchi. Italien steht kurz vor einem Referendum
       über den Verbleib in der Europäischen Union, an dessen – positivem –
       Ausgang nicht zuletzt die politische Karriere Pietromarchis hängt.
       
       ## Kindisches Gemeinwesen
       
       Seinen Amtspflichten gemäß inspiziert der Premier das unaufhörlich
       Körperflüssigkeit absondernde Artefakt im unheimlich leeren Bassin. Die
       Erscheinung verwirrt und lähmt ihn auf seltsame Weise: Seltsam, weil ihm
       als EU-Befürworter eine offensichtlich trauernde Madonna bei einem
       Volksentscheid im katholischen Italien doch in die Hände spielen müsste!
       
       Zu politischer Wirkung bringen kann der atheistische Premier die gegen alle
       Naturgesetze weinende Mutter Gottes aber nicht, weil er Angst vor seinen
       eigenen irrationalen Anteilen, aber noch viel mehr Verachtung für das im
       Aberglauben verharrende Volk hat, das er regieren soll. So lahmgelegt lässt
       er den General die Madonna buchstäblich tiefkühlen.
       
       Mit Pietromarchi hat der Schöpfer der Serie, der Schriftsteller Niccolò
       Ammaniti, das klassische Porträt des fortschrittlichen italienischen
       Politikers neu interpretiert, der gegen Volkstribunen wie Berlusconi und
       Salvini keine Chance hat. Vom Genre her ist „Ein Wunder“ ein Mix aus
       Mystery, Commedia all’italiana und Politthriller, der so offensichtlich mit
       den freudschen Zaunpfählen winkt, wie er radikale Gesellschaftskritik übt.
       
       Ammaniti zeigt Italien als kindisches Gemeinwesen, dessen politische und
       wirtschaftliche Eliten nicht mal für sich selbst Verantwortung übernehmen
       können, geschweige denn für ihre Kinder, und das nur deswegen nicht in sich
       zusammenfällt, weil am Ende im Hintergrund jemand so pragmatisch wie
       undemokratisch einen kühlen Kopf bewahrt. Unrealistisch ist das nicht.
       
       21 Jan 2019
       
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