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       # taz.de -- Kohleausstieg und Gewerkschafter: Der beste Kumpel der Industrie
       
       > Michael Vassiliadis ist derzeit der wichtigste deutsche Gewerkschafter.
       > In der Kohlekommission streitet er um viel Geld und geringe
       > Klimavorgaben.
       
   IMG Bild: Kämpft auf der Straße genauso wie im Hinterzimmer: Michael Vassiliadis
       
       Berlin/Cottbus taz | Als am Dienstagabend im Kanzleramt bis in die Nacht
       über den Kohleausstieg verhandelt wird, ist Michael Vassiliadis nicht
       persönlich vor Ort – weder bei den gut 20 Pro-Braunkohle-Demonstranten, die
       draußen in der Kälte stehen und versuchen, neben den weitaus zahlreicheren
       UmweltaktivistInnen wahrgenommen zu werden, noch beim Abendessen, zu dem
       Angela Merkel die Ministerpräsidenten der Kohleländer, die Vorsitzenden der
       Kohlekommission und das halbe Bundeskabinett eingeladen hat.
       
       Doch seine Argumente sind trotzdem allgegenwärtig. Denn Michael Vassiliadis
       ist derzeit der einflussreichste Akteur in den Verhandlungen über die
       [1][Zukunft der Kohleregionen]. „Ich habe nur eine Stimme in der
       Kommission“, verkündete er vor einer Weile selbstbewusst, „aber viele
       Freunde.“
       
       Seit zehn Jahren ist der Sohn eines griechischen Gastarbeiters und einer
       deutschen Mutter Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
       Energie (IG BCE), der mit rund 640.000 Mitgliedern drittgrößten deutschen
       Gewerkschaft. Von denen arbeitet zwar nur ein Bruchteil in der Kohlebranche
       – Kraftwerke und Tagebaue beschäftigen insgesamt nur noch knapp 20.000
       Menschen. Doch für die zeigt Vassiliadis derzeit vollen Einsatz.
       
       Der 54-Jährige läuft nicht nur im Nieselregen in der ersten Reihe, als
       seine Gewerkschaft im Oktober im Rheinland unter dem Motto „Wir sind laut
       für unsere Jobs“ über 20.000 Menschen gegen eine „einseitige Klimapolitik“
       und einen schnellen Kohleausstieg mobilisiert. Vor allem verfügt
       Vassiliadis, der privat mit der ehemaligen SPD-Generalsekretärin Yasmin
       Fahimi liiert ist, auch beruflich über exzellente Kontakte in die Politik.
       
       ## „Investitionen von gewaltigem Ausmaß“
       
       Wenn er, wie im vergangenen September, zu einer Konferenz zur Zukunft der
       Braunkohleregion Lausitz nach Cottbus einlädt, laufen dort mit dem SPD-Mann
       Dietmar Woidke aus Brandenburg und seinem CDU-Kollegen Michael Kretschmer
       aus Sachsen gleich zwei Ministerpräsidenten auf. Und anders als bei vielen
       anderen Veranstaltungen, bei denen Spitzenpolitiker nach ihrer Rede sofort
       wieder verschwinden, bleiben sie mehrere Stunden und drängen sich auch in
       der Kaffeepause um den Gewerkschaftschef. So eng ist sein Draht in die
       Politik, dass es sich Vassiliadis sogar erlauben kann, die beiden
       Ministerpräsidenten einfach stehen zu lassen, als sein Handy klingelt.
       
       Die betroffenen Bundesländer wollen im Gegenzug für den Kohleausstieg so
       viel Geld wie möglich herausschlagen; ihre Forderung beläuft sich auf bis
       zu 60 Milliarden Euro. Und sie wissen, dass sie dabei auf Vassiliadis als
       wichtigen Verbündeten zählen können. Die 1,5 Milliarden Euro, die die
       Bundesregierung bisher für den Strukturwandel zugesagt hat, seien „ein
       Tropfen in der ausgedörrten Wüste“, meint der.
       
       Bei der Jahrespressekonferenz seiner Gewerkschaft legte er am Montag nach.
       Erforderlich seien „Investitionen von gewaltigem Ausmaß“, erklärte
       Vassiliadis, wie üblich im Anzug mit Gewerkschaftslogo am Revers. „Die
       Regierung muss Verantwortung dafür übernehmen, wenn sie einen rentablen
       Industriezweig politisch abschalten will.“
       
       Dieser Druck zeitigt offenbar Wirkung: Nach dem Spitzentreffen im
       Kanzleramt am nächsten Tag äußerten sich die Länderchefs aus dem Osten
       zufrieden. Die Kanzlerin und ihr Finanzminister hätten eine „langfristige
       Finanzzusage“ gegeben, berichtete Kretschmer im Anschluss. Genutzt werden
       könnte dieses Geld für den Ausbau von Schienen, Straßen und Mobilfunknetzen
       ebenso wie für die Ansiedlung neuer Bundesbehörden und Unternehmen.
       
       ## Stillegung an Bedingungen geknüpft
       
       Auch die Konzerne, deren MitarbeiterInnen Vassiliadis vertritt, können sich
       stets auf den Chef der IG BCE verlassen. Obwohl mehrere Rechtsgutachten zu
       dem Ergebnis gekommen sind, dass die Kohlekraftwerke überwiegend ohne eine
       finanzielle Entschädigung der Betreiber stillgelegt werden können, hat
       Vassiliadis sich dafür eingesetzt, dass trotzdem Geld fließt. „Sonst endet
       der Kohleausstieg vor einem Schiedsgericht in New York“, warnte der
       Gewerkschaftschef von Anfang an.
       
       Im Raum steht nun eine Summe von etwa einer halben Milliarde Euro pro
       Braunkohleblock. Damit haben sich auch die KohlegegnerInnen in der
       Kommission schon abgefunden. Ohne Entschädigung gebe es keine Mehrheit,
       lautet ihre resignierte Einschätzung.
       
       Auch die von Gewerkschaften und Industrie vorgebrachte Forderung, die
       Strompreise für die energieintensive Industrie noch stärker zu
       subventionieren als bisher, soll offenbar zumindest zum Teil erfüllt
       werden. Das sei nötig, argumentiert Vassiliadis, um trotz eines möglichen
       Preisanstiegs durch den Kohleausstieg etwa die Chemiebranche im Land zu
       halten. Denn deren Beschäftigte gehören schließlich auch zu seiner
       Gewerkschaft.
       
       Dass viele Milliarden an Regionen und Unternehmen fließen werden, scheint
       also sicher. Ob es im Gegenzug echte Fortschritte beim Klimaschutz gibt,
       ist dagegen noch offen. Denn ebenso engagiert wie beim Einsatz für die
       Unternehmen ist der Chef der IG BCE im Kampf gegen ein schnelles und
       verbindliches Abschalten von Kohlekraftwerken. Zwar spricht sich
       Vassiliadis nicht generell gegen die Energiewende aus – dass das nicht mehr
       zeitgemäß ist, ist im Gegensatz zu Teilen der Basis zumindest der Führung
       der Gewerkschaft klar. Aber er machte von Anfang an deutlich, dass er die
       Stilllegung der klimaschädlichen Kraftwerke an Bedingungen knüpfen will.
       
       ## 20 konkrete Maßnahmen
       
       Und zwar am liebsten an ziemlich viele. In einem Textentwurf von
       Gewerkschaften und Industrie von Dezember, der der taz vorliegt, werden
       schon 20 konkrete Maßnahmen aufgeführt, die erfüllt sein müssen, bevor das
       erste Kraftwerk vom Netz geht – darunter neben naheliegenden Forderungen
       wie Strompreiskompensationen und steuerlicher Forschungsförderung für
       Unternehmen auch ziemlich abseitige Sonderwünsche wie die Abschaffung der
       Umsatzsteuervoranmeldung für Gründer und mehr naturwissenschaftlicher
       Unterricht in den Lehrplänen.
       
       Diese absurde Liste ist mittlerweile wieder vom Tisch. Doch dass das
       Kohle-Aus an Bedingungen wie Fortschritte beim Ausbau von Netzen und
       erneuerbaren Energien gekoppelt wird, fordert Vassiliadis nach wie vor.
       „Erst beim Ausbau liefern, dann abschalten“, forderte er am Montag beim
       Pressetermin in Hannover. In einem Interview mit dem Fachdienst Energate
       legte er noch einmal nach: „Wir werden nicht einfach unverrückbare
       Ausstiegsdaten festlegen können, allenfalls Korridore“, erklärte er. „Und
       deren Realitätsbezug werden wir in den Jahren zuvor regelmäßig streng
       abgleichen müssen.“
       
       Doch auf solche Bedingungen wollen sich die Umweltverbände auf keinen Fall
       einlassen. Sie fordern fixe Termine für den Kohleausstieg – bis 2022 wollen
       sie Kraftwerke mit einer Leistung von 16 Gigawatt stilllegen, bis 2030 den
       Rest. Dadurch würden nicht nur die deutschen Klimaziele erreichbar, sondern
       zudem der Hambacher Wald und zahlreiche Dörfer gerettet.
       
       Industrie und Gewerkschaften wollen dagegen kurzfristig nur 5 Gigawatt und
       den Rest bis Ende der 2030er Jahre abschalten. Die Differenz scheint kaum
       überbrückbar. Dennoch stehen die Chancen für eine Einigung nicht schlecht.
       10 der 28 stimmberechtigten Kommissionsmitglieder stehen hinter den
       Forderungen der Umweltverbände. Die für den Abschlussbericht erforderliche
       Zweidrittelmehrheit ist gegen diese Koalition also nicht möglich.
       
       ## Starkes Interesse an einer Einigung
       
       Und die verhandelt ebenfalls hart. „Es wäre den Menschen nicht
       vermittelbar, wenn Milliarden von Steuergeldern fließen, aber beim
       Klimaschutz nichts oder zu wenig passiert“, sagt etwa Antje Grothus, die
       für die rheinische Bürgerinitiative Buirer für Buir in der Kommission
       sitzt. Auch Kai Niebert, als Präsident des Umweltdachverbands DNR in der
       Kommission und ebenso wie Vassiliadis SPD-Mitglied, betont: „Geld kann es
       nur gegen einen schnellen und verbindlichen Ausstieg geben.“
       
       Damit die vielen Milliarden, die Vassiliadis erkämpft hat, Realität
       werden, müssen die Klimaschützer also an Bord. Die Umweltverbände gehen
       darum davon aus, dass der Gewerkschaftschef ein starkes Interesse an einer
       Einigung hat. Trotz seiner klaren Positionen agiere Vassiliadis freundlich
       und konstruktiv, berichten auch Menschen, die ihm inhaltlich fernstehen.
       
       Er selbst hat in der Vergangenheit stets betont, kompromissbereit zu sein.
       „Ich bin das schon deshalb, weil es für einen Gewerkschafter eine
       selbstverständliche Aufgabe ist, Verträge und Ergebnisse zu liefern, die
       unseren Mitgliedern nützen“, [2][sagte er im Oktober der] Aachener Zeitung.
       Und: „Die deutsche Debatte war doch dafür bekannt, trotz unterschiedlicher
       Positionen eine gemeinsame Lösung zu finden.“
       
       Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr: Am kommenden Freitag tritt die
       Kommission offiziell zu ihrer letzten Sitzung zusammen, eine Woche später
       sollen die Ergebnisse vorgestellt werden. Ein Scheitern wäre nicht nur ein
       Problem für den Klimaschutz und die betroffenen Regionen, die den
       Strukturwandel dann ohne finanzielle Untersützung bewältigen müssten. Es
       wäre auch eine persönliche Niederlage für Michael Vassiliadis.
       
       20 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Spitzentreffen-der-Kohlelaender/!5566103
   DIR [2] https://www.aachener-zeitung.de/nrw-region/der-hambacher-forst-ist-ein-plakatives-symbol_aid-34046839
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malte Kreutzfeldt
       
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