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       # taz.de -- Streunerin durchs Unterholz
       
       > Zum Tod der US-amerikanischen Lyrikerin Mary Oliver
       
   IMG Bild: Die Dichterin Mary Oliver 1992 bei der Verleihung der National Book Awards in New York
       
       Von Anne-Sophie Balzer
       
       Um in dieser Welt leben zu können, müsse man drei Dinge können, schrieb die
       Lyrikerin Mary Oliver in ihrem Gedicht „In Blackwater Woods“: alles
       Sterbliche lieben; es festhalten, als würde das eigene Leben davon
       abhängen; und wenn die Zeit gekommen sei, es wieder gehen zu lassen. To let
       it go, to let it go.
       
       Am Donnerstag ist die amerikanische Dichterin im Alter von 83 Jahren in
       ihrem Haus in Florida gestorben. Oliver gewann zahlreiche Preise, unter
       anderem den Pulitzerpreis und den National Book Award. Zudem wurde sie –
       ungewöhnlich für eine Dichterin – von einem breiten Publikum in den USA
       verehrt, viele ihrer Gedichtbände waren Bestseller.
       
       Mary Oliver wuchs in einem Vorort von Cleveland, Ohio auf. Ihre Kindheit
       beschrieb sie als schwierig, ihre Familie als dysfunktional. In einem ihrer
       raren Interviews bekannte sie, von einem nahen Verwandten sexuell
       missbraucht worden zu sein. Bereits als Kind stahl Oliver sich zu jeder
       Tages- und Nachtzeit aus dem Haus hinaus in den Wald. Erst die Natur,
       später ihre Bücher und schließlich das eigene Schreiben dienten Oliver zur
       Krisenbewältigung. Die große Anteilnahme, mit der Menschen in sozialen
       Medien nun auf ihren Tod reagierten, legt nahe, dass Olivers Arbeit Trost
       und Linderung auch ihren Leser*innen verschaffte. Vielleicht gerade weil
       Menschen darin meist randständige Beobachter*innen bleiben.
       
       Held*innen ihrer Gedichte sind stattdessen Schildkröten, Eulen, Füchse,
       Frösche, Wildgänse oder im Regen sprießende Pilze. Nahezu all ihre Gedichte
       und Essays, die nie ins Deutsche übersetzt wurden, handeln von Flora und
       Fauna. Der Ort des Geschehens ist meist ein Tümpel oder Wäldchen in Olivers
       langjähriger Heimat Provincetown im US-Bundesstaat Massachusetts, wo sie
       mehr als vierzig Jahre lang mit der Fotografin Molly Malone Cook lebte.
       
       Olivers literarische Liebe galt den amerikanischen Transzendentalisten
       Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau und den Dichtern William
       Wordsworth, Robert Frost und Walt Whitman. Vielen ihrer Vorbilder widmete
       sie Essays. Häufig wurde Oliver mit Emily Dickinson verglichen, mit der sie
       die Vorliebe für Einsamkeit, innere Monologe und ungewöhnliche Metrik
       teilte.
       
       In Olivers Gedichten streunt die Erzählerin meist in Begleitung ihres
       Hundes als teilnehmende Beobachterin durchs Dickicht, geleitet von dem
       Wunsch, sich ganz in der natürlichen Welt aufzulösen. Mal kriecht sie tief
       im Wald auf allen vieren durchs Unterholz, um die Welt aus der Perspektive
       der Baumsprösslinge, der Gräser und Erdklumpen zu sehen und zu riechen. Mal
       hängt sie am Bauch einer Katze und kostet von deren Milch. Oliver schreibt
       nicht nur, sie reflektiert stetig ihren Schreibprozess, die eigenen damit
       verbundenen oder vom Genre diktierten Ansprüche oder die Erwartungen ihrer
       Leser*innen.
       
       In den amerikanischen Feuilletons und Kulturredaktionen fanden nicht alle
       Gefallen an Olivers Lyrik. Kritik musste sie sich etwa von
       Feminist*innen gefallen lassen, die Oliver vorwarfen, die Beziehung
       zwischen Natur und Frau zu verklären. Sie schicke ihre Leser*innen auf
       eine falsche Fährte, indem sie die Identifizierung mit allem Natürlichen
       als empowernd darstelle, lautete etwa einer dieser Kritikpunkte.
       
       Ob Oliver selbst eine feministische Agenda hatte, ist fraglich. In ihren
       Gedichten spielt das Geschlecht des Beobachtenden keine Rolle. Es ist
       stets nur Mensch, nicht im Sinne einer Auflösung von Geschlechtergrenzen,
       sondern von Grenzen zwischen allem, was wächst, kreucht, fleucht oder mit
       dem SUV durch den Wald brettert. „Wenn wir unsere Beziehung zur Natur
       verlieren, vergessen wir, dass wir sie brauchen, dass auch wir Tiere sind“,
       sagte Oliver in einem Interview. Den Wert ihrer Arbeit sieht sie darin, die
       Menschen daran zu erinnern, wie die Erde einmal ausgesehen hat.
       
       19 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anne-Sophie Balzer
       
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