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       # taz.de -- taz gazete hat Geburtstag: So schreiben Sie über die Türkei
       
       > Beim Berichten über die Türkei kann man als Journalist*in schon
       > verzweifeln. Wir zeigen, wie’s geht: Suchen Sie Gegensätze! Unbedingt!
       
   IMG Bild: Symbolfoto
       
       Ganz anders als jedes andere Land der Welt ist die Türkei ein Land voller
       Widersprüche und Kontraste. Als Journalistin oder Journalist können Sie
       dies gar nicht oft genug betonen! Scheuen Sie sich auch nicht, die
       Kontraste zu überzeichnen!
       
       Finden Sie so viele Gegensatzpaare wie möglich, die veranschaulichen,
       welche Welten in der Türkei aufeinanderprallen: säkular und islamisch,
       moderne Stadtbevölkerung versus traditionelle Landbevölkerung,
       Oppositionelle gegen AKP-Wähler. Damit es noch plastischer wirkt, suchen
       Sie Bilder, die die Widersprüchlichkeit des Landes symbolisieren: Schreiben
       Sie über die Moschee im Schatten des Wolkenkratzers, lassen Sie Frauen im
       Minirock neben Frauen mit Kopftuch flanieren.
       
       Für die richtige Atmo streuen Sie dann ein paar orientalisch anmutende
       Szenen ein.
       
       Lassen Sie die Sonne malerisch hinter der Silhouette der Blauen Moschee
       untergehen und den Imam zum Gebet rufen, Taxifahrer im Verkehrschaos hupen
       und Marktschreier ihr Obst und Gemüse lautstark anpreisen. So entsteht vor
       den Augen der Leser ein buntes Treiben. Orientfeeling kommt auf, wenn Sie
       Sultane und Glanz und Elend des Osmanischen Reichs einfließen lassen.
       
       ## Anatolien ist egal!
       
       Unbedingt sollten Sie in Istanbul bleiben, wenn Sie über die Türkei
       schreiben! Die restlichen 97 Prozent des Landes verwirren die Leser*innen
       nur. Und warum soll man sich nach Anatolien wagen, wenn man so bequem alle
       Widersprüche in einer Stadt serviert bekommt? Eben. Wie praktisch, dass
       Istanbul auf zwei Kontinenten liegt. Vergessen Sie nicht, zu schreiben,
       dass die Stadt am Bosporus die Brücke zwischen Ost und West, zwischen
       Orient und Okzident ist.
       
       Falls Sie doch ins Landesinnere fahren, schreiben Sie über todesmutige
       PKK-Kämpfer*innen, die mit dem Gewehr auf der Schulter und im
       Guerillagewand auf schmalen Bergpfaden wandern.
       
       Lassen Sie die Menschen auf der Straße zu Wort kommen, wenn Sie die
       Stimmung im Land einfangen wollen; besonders gut eignen sich Taxifahrer,
       Straßenverkäufer und die Angler von der Galatabrücke. Auch ein deutscher
       Expat kann Ihnen die Lage im Land sicher kompetent erklären. Betten Sie
       Ihren Interviewpartner in die Atmosphäre ein, lassen Sie ihn heißen
       schwarzen Tee aus Tulpengläsern schlürfen, Kette rauchen und eine
       Gebetskette durch seine Finger gleiten.
       
       Damit sich der Leser ein Bild von Ihren Protagonisten machen kann,
       beschreiben Sie das Äußere: Frauen sollten möglichst immer zierlich, aber
       erstaunlich stark sein (Achtung, Kontrast!), und die Männer tragen am
       besten einen Schnauzer.
       
       ## Der ultimative Bösewicht
       
       Und vergessen Sie nicht das „Inschallah“ am Ende jedes Zitats!
       
       Erwähnen Sie unbedingt, dass 99 Prozent der Bevölkerung muslimisch sind.
       Schreiben Sie am besten vom Aufschwung der Regierungspartei als Sieg des
       Islam über die säkulare Bewegung Atatürks, der das Land ins tiefste
       Mittelalter zurückwirft.
       
       Überhaupt, Erdoğan: Schätzen Sie sich glücklich: Mit dem türkischen
       Präsidenten haben Sie den ultimativen Bösewicht zur Hand. Verzichten Sie
       auf seinen Vornamen und seine Funktion, wenn Sie ihn erwähnen, Sie können
       ihm stattdessen schöne Beinamen geben. Nennen Sie ihn den Sultan vom
       Bosporus, den Diktator mit Allmachtsfantasien. Dumm nur, dass mit Gülen ein
       zweiter Bösewicht auf die Bildfläche getreten ist. Damit können Sie nicht
       arbeiten. Stellen Sie das Böse als „Kismet“, also Schicksal dar, das dieses
       Land ereilt hat, und bauen Sie ja keine Begründungen ein, die die Haltung
       der EU und die Haltung Deutschlands zur Türkei kritisch beleuchten. Stellen
       Sie fest, dass die Lage in der Türkei finster und die Zukunft ungewiss ist.
       Werfen Sie die Frage auf, wohin das Land steuert, gern auch staatstragend à
       la Türkei, quo vadis?
       
       Damit haben Sie auch gleich den perfekten Titel für Ihr Panel oder Ihr Buch
       über die Türkei. Dabei wissen Sie die Antwort natürlich längst: Der
       Diktator steuert die Türkei mit Vollgas in den Abgrund. Auch wenn es in
       Ihrem Artikel um ganz andere Dinge geht, bringen Sie unbedingt Erdoğan ins
       Spiel!
       
       Und: Denken Sie unbedingt an wirkungsvolle Fotos. Kopftücher und
       Wolkenkratzer, Teegläser und Sesamkringel, Minarette und rote Fahnen mit
       Halbmond, am besten von Frauen in Kopftüchern geschwenkt – oder von
       ekstatischen Massen, die ihrem Präsidenten zujubeln. Noch besser können Sie
       das gar nicht illustrieren. Sie finden kein Bild, das zu Ihrem Thema passen
       könnte? Kein Problem, es gibt ja immer noch Erdoğan. Ein Bild von Erdoğan,
       am besten mit Sonnenbrille und Minaretten im Hintergrund. Das passt
       übrigens auch dann immer gut, wenn es um die türkeistämmigen Menschen in
       Deutschland geht.
       
       ## Innerlich zerrissene Türkeistämmige
       
       Denn wenn Sie schon dabei sind, über die Türkei zu schreiben, können Sie
       auch ganz einfach über die Türkeistämmigen in Deutschland schreiben.
       Stellen Sie in diesem Fall die innere Zerrissenheit der Menschen heraus,
       die zwischen zwei Welten leben. Erklären Sie zudem die Integration der
       Türk*innen in Deutschland mit Aspekten aus „ihrem Heimatland“ und der
       „Kultur ihrer Landsleute“. Lassen Sie Ihr Wissen über Islam und türkische
       Kultur einfließen, wenn Sie über Deutschtürken schreiben. Und garnieren Sie
       das Ganze am besten mit einer Koransure. Erklären Sie vollmundig, dass zwei
       Drittel der hiesigen Türk*innen Erdoğan wählen – das stimmt zwar nicht,
       aber es wird eh keiner nachzählen.
       
       [1][Zwischendurch fragen Sie hoffentlich noch Taxifahrer, Dönerverkäufer
       und Kuaföre nach ihrer Meinung zu Erdoğan]! Schließlich haben Sie ja auch
       zuerst die Currywurstverkäufer nach ihrer Einschätzung gefragt, als es um
       die Nachfolge Angela Merkels für den CDU-Parteivorsitz ging. Und das gibt
       ja wieder so schöne Bilder am Dönerstand!
       
       Schwer zu bebildern ist allerdings ein wirklich eklatantes Problem der
       Türkei: nämlich die über 140 inhaftierten Journalist*innen. Wie soll man
       sich die ganzen Namen bloß merken? Aber keine Sorge: Stellen Sie einfach
       ein, zwei prominente männliche Kollegen in den Vordergrund, am besten die,
       die nicht mehr im Gefängnis sind und vielleicht schon im Exil. An ihnen
       können Sie den Typus des unterdrückten, verfolgten Oppositionellen
       wunderbar aufzeigen. Blenden Sie aus, dass es in den Herkunftsländern der
       Exiljournalisten weiterhin für die Pressefreiheit kämpfende Organisationen
       gibt, das verwässert das Bild nur.
       
       Auch AKP wählende Kurd*innen und trans Frauen stören das Bild. Hier gibt es
       nur zwei Seiten: gut und böse, Regierung und Opposition, allmächtiger Täter
       und ohnmächtiges Opfer. Wenn es um die Oppositionellen geht, wählen Sie
       einen Tonfall der Betroffenheit und zeigen Sie, wie barmherzige Deutsche
       der verfolgten Zivilgesellschaft in der Türkei zu Hilfe eilen, indem sie
       sich solidarisch erklären.
       
       Zum Schluss: Steigen Sie mit einem blumigen Sprichwort aus, das kein
       Schwein versteht. Man wird Ihnen abnehmen müssen, dass Sie nicht nur Land
       und Leute kennen, sondern auch die Sprache en detail, also bis hin zu den
       Redewendungen.
       
       „Kolay gelsin“ würde man Ihnen in der Türkei zurufen: „Möge es Ihnen leicht
       von der Hand gehen.“
       
       [2][taz gazete] wird am 19. Januar zwei Jahre alt. Die deutsch-türkische
       Plattform der [3][taz Panter Stiftung] und der taz setzt sich für die
       Pressefreiheit in der Türkei ein. In dieser Zeit haben wir viele Artikel
       über die Türkei gelesen, redigiert und geschrieben. Dabei sind uns immer
       wieder die gleichen Stereotype über die Türkei begegnet – auch in unseren
       eigenen Texten. Natürlich ist nicht jedes Klischee komplett falsch. Die
       Schwierigkeit besteht nur darin, die komplexen Zusammenhänge in der Türkei
       darzustellen, ohne einem vereinfachenden diametrischen Schema zu erliegen.
       Vor dieser Herausforderung stehen wir in unserer täglichen Arbeit.
       
       18 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nach-dem-Referendum-in-der-Tuerkei/!5398702
   DIR [2] https://gazete.taz.de/
   DIR [3] /Panter-Stiftung/!p4258/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ebru Tasdemir
   DIR Elisabeth Kimmerle
       
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