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       # taz.de -- Kommentar Stickoxid und Tempolimit: Fakten zählen nicht mehr
       
       > Die Debatte über Stickoxid und Tempolimit zeigt: In der Verkehrspolitik
       > schwindet das Rationale. Nur, was politisch nützt, wird wahrgenommen.
       
   IMG Bild: Stickoxide gefährden alle – vor allem aber Asthmatiker und Kinder
       
       Es ist eine beängstigende Debatte, die dieser Tage in Deutschland geführt
       wird. 112 Personen, die meisten von ihnen LungenärztInnen, stellen in einem
       Papier die aktuellen Grenzwerte für Stickoxid und Feinstaub [1][infrage] –
       und schon fordert auch CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer allen Ernstes,
       man müsse auf EU-Ebene darüber diskutieren, diese Grenzwerte auszusetzen.
       
       Nun haben die LungenärztInnen natürlich alles Recht der Welt, ihre Meinung
       zu äußern. Doch es zeigt sich, dass sie eine absolute Minderheitenposition
       vertreten.
       
       Ihr Dachverband kommt in einer aktuellen, ausführlichen Stellungnahme zum
       Schluss, dass die geltenden Grenzwerte gerechtfertigt sind und eher
       verschärft als abgeschwächt gehören. Und im Gegensatz zum Anführer der
       KritikerInnen, einem pensionierten Lungenarzt, haben sich die AutorInnen
       dieses Papiers wissenschaftlich mit den Wirkungen von Stickoxiden
       beschäftigt.
       
       Zudem ignoriert die jüngste Kritik den aktuellen Stand der Forschung. Die
       ersten Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zu Stickoxid, die die
       Grundlage für die Einführung des EU-Grenzwerts waren, mögen tatsächlich
       eher auf groben Schätzungen beruht haben, wie die Kritiker monieren.
       Seitdem sind sie aber immer wieder überprüft und durch viele neue
       Untersuchungen bestätigt worden.
       
       ## Ein Grenzwert ist immer ein Kompromiss
       
       Dennoch bleibt es richtig, dass ein Grenzwert nie ausschließlich
       wissenschaftlich hergeleitet wird. Er ist stets ein politischer Kompromiss
       zwischen dem Wunsch nach maximaler Gesundheitsvorsorge und anderen
       Bedürfnissen wie Mobilität. Die Entscheidung über diesen Kompromiss ist in
       der EU vor über zehn Jahren gefallen.
       
       Aufgrund des Vorsorgeprinzips, das auch die Bedürfnisse der besonders durch
       Stickoxide gefährdeten Asthmatiker und Kinder berücksichtigt, fiel der
       Grenzwert durchaus anspruchsvoll aus. Doch er hätte problemlos eingehalten
       werden können, wenn nicht die Autokonzerne ihre Abgasreinigung manipuliert
       hätten und die Bundesregierung jahrelang auf wirksame Gegenmaßnahmen wie
       Nachrüstungen verzichtet hätte.
       
       Es wäre ein völlig falsches Signal, dieses doppelte [2][Versagen] von
       Industrie und Politik nun durch ein Hochsetzen der Grenzwerte zulasten der
       Gesundheit nachträglich zu belohnen.
       
       Und der Streit um die Grenzwerte ist leider nicht der einzige Fall, bei dem
       die Politik aus Angst vor der Wut einiger AutofahrerInnen nur jene Fakten
       wahrnimmt, die zur eigenen politischen Position passen. Auch beim
       Tempolimit, das eine Mehrheit der Deutschen unterstützt, aber eine
       Minderheit sehr aggressiv ablehnt, scheint eine sachliche Diskussion
       unerwünscht.
       
       ## Eine für Deutschland neue Entwicklung
       
       Allein, dass der Vorschlag in einer Ideensammlung der von ihm selbst
       eingesetzten ExpertInnenkommission auftauchte, brachte Verkehrsminister
       Scheuer so in Rage, dass er der Kommission „jeden Menschenverstand“
       absprach und eine geplante Sitzung kurzfristig absagte.
       
       Und beim Klimawandel ist es inzwischen nicht mehr nur die AfD, die den
       wissenschaftliche Konsens offen in Frage stellt. Auch FDP-Generalsekretärin
       Nicola Beer spricht bei der Zunahme von Extremwetterereignissen durch den
       Klimawandel, von denen der Weltklimarat IPCC berichtet, schon mal von
       „kleinen Ausschlägen“ und bezeichnet sie im Stil von US-Präsident Donald
       Trump als „Fake News“.
       
       Das ist für Deutschland eine neue Entwicklung – und sie gibt Anlass zur
       Sorge. Über die Konsequenzen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen haben die
       Parteien schon immer gestritten, doch die Faktenbasis wurde bisher stets
       akzeptiert – das zeigt sich etwa an der Kohlekommission, wo trotz großer
       Interessengegensätze bis zuletzt konstruktiv um einen Kompromiss gerungen
       wird.
       
       Wenn sich stattdessen der Trend durchsetzt, nur jene Tatsachen zur Kenntnis
       zu nehmen, die politisch gerade opportun erscheinen, ist eine sachliche, an
       Lösungen orientierte Politik kaum noch möglich.
       
       25 Jan 2019
       
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