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       # taz.de -- Kolumne Minority Report: Jede Ehe ist eine Scheinehe
       
       > Einer NGO wird der Aufruf zu Scheinehen vorgeworfen. Vielleicht ist Liebe
       > nichts anderes als die strategische Aufteilung der eigenen Privilegien.
       
   IMG Bild: Wer heiratet, fördert Unterdrückung, den Erhalt des Patriarchats. So einfach ist das. Oder etwa nicht?
       
       Seit Kurzem trage ich Schmuck an meinem rechten Ringfinger und der Satz,
       den ich seitdem ziemlich häufig höre, lautet: „Also von dir hätte ich das
       ja nicht gedacht!“ Das soll wohl Enttäuschung ausdrücken. Nicht etwa weil
       die jeweilige Person mir einen Antrag machen wollte, sondern weil sie mich
       als Verbündete sah – und sich durch den Ring plötzlich verraten fühlt.
       
       Heiraten ist uncool, unzeitgemäß, antifeministisch, falsch… Die Liste lässt
       sich noch endlos weiterführen, schließlich leben wir in einer modernen
       westlichen Demokratie, wo progressive, selbstbestimmte, linke Menschen die
       Ehe grundsätzlich ablehnen sollten. Wer heiratet, fördert Unterdrückung,
       den Erhalt des Patriarchats. So einfach ist das. Oder etwa nicht?
       
       So las sich auch einer der seriöseren Kritikpunkte an einem Tweet, [1][den
       Mission Lifeline vergangene Woche absetzte:] „Ihr seid noch nicht
       verheiratet? Vielleicht verliebt ihr euch zufällig in einen Menschen,
       der*die hier noch kein Bleiberecht hat. Könnte passieren, oder? Bleibt
       offen!“ Die Reaktionen auf die ohnehin umstrittene private Seenothilfe
       waren heftig und gingen in alle Richtungen. Vor allem hieß es, die NGO
       verkupple „kriminelle Flüchtlinge“ und rufe zu einer Scheinehe auf – einer
       in Deutschland massiv verfolgten Straftat.
       
       Nun ist es mit dem Konzept Scheinehe aber so eine Sache. Juristisch
       bedeutet es, dass eine Ehe nur formal geschlossen wird, damit eine oder
       beide Seiten einen rechtlichen Vorteil aus der Eheschließung ziehen. Das
       ist interessant, denn das trifft auf so ziemlich jede Ehe zu, die mir
       bekannt ist. Die einen heiraten, um Steuern zu sparen, die anderen, um
       finanziell abgesichert zu sein durch die Unterhaltspflicht. Viele heiraten,
       [2][weil sie jemanden brauchen, der sie pflegt und vögelt und in den Arm
       nimmt,] ohne jedes Mal extra dafür bezahlen zu wollen – sondern als
       Flatrate quasi.
       
       ## Ungleiche Machtverteilung
       
       Okay, manche heiraten auch aus religiösen Überzeugungen oder weil sie zu
       viele Hollywoodfilme gesehen haben, aber selbst das halte ich für Schein –
       denn wo andere eine Beziehungspause einlegen oder sich trennen, reichen
       Eheleute eben nicht sofort die Scheidung ein, sondern überlegen erst mal,
       ob sich das überhaupt rechnet. Man kann also durchaus sagen: Jede Ehe ist
       eine Scheinehe.
       
       Solange es in diesem Land Rechte gibt, die nur mit der Eheschließung
       einhergehen, ist die Aversion gegen Heirat häufig nur ein Zeichen von
       Privilegiertheit. Man selbst hat es nicht nötig und verachtet jene, die es
       tun – ob aus finanziellen Gründen oder wegen des Aufenthaltstitels, der
       tatsächlich am einfachsten über die Eheschließung abzusichern ist. Ob
       Heiraten die klügste Form des Aktivismus ist, sei dahingestellt – die
       ungleiche Machtverteilung in so einer Beziehung endet ja wirklich nicht
       selten in Erpressung.
       
       Aber solange die Institution Ehe nicht komplett abgeschafft wird – das wäre
       immerhin konsequent –, ist der Rat von Mission Lifeline gar nicht so
       verkehrt: Vielleicht ist wahre Liebe ja nichts anderes als die strategische
       Aufteilung der eigenen Privilegien.
       
       28 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/SEENOTRETTUNG/status/1088188941612781568
   DIR [2] /Warum-Liebe-endet-von-Eva-Illouz/!5546824
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
       
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