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       # taz.de -- CTM-Festival in Berlin: Wie ein Abbild von Prince
       
       > Lange Schlangen, Techno, Augmented Reality und Twerking: Am Wochenende
       > hat das CTM-Festival für Musik und Kunst eröffnet.
       
   IMG Bild: Sexpositive Explosion: die queere Performance-KünstlerIn Linn da Quebrada aus São Paulo
       
       Laut Statistik verbringen die BürgerInnen Russlands ein Drittel ihres
       Lebens damit, in der Schlange zu stehen. Vladimir Sorokin, der über das
       ritualisierte Anstehen einen großartigen Roman geschrieben hat, könnte für
       eine Fortsetzung von „Die Schlange“ aktuelles Anschauungsmaterial in seiner
       Wahlheimat sammeln: BesucherInnen [1][des Festivals CTM in Berlin] warten
       auch bei eisiger Kälte geduldig, bis sich der Club Berghain auftut und bis
       im zugigen Foyer des Hebbeltheaters die Tickets kontrolliert sind; dabei
       wirkt es so, als sei der Zuschaueransturm zu bewältigen. Das Warten,
       Drängeln und Schieben, es kann ja auch gesellig sein, außer man stellt sich
       in der falschen Schlange an.
       
       Auch das passt zur 20. Ausgabe des am frühen Freitagabend eröffneten CTM,
       „Festival for Adventurous Music“. Es startet ohne viel Aufsehen mit der
       Gruppenausstellung „Persisting Realities“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien.
       Beharrende Realitäten? Trost spendet in dem forcierten Trubel die
       Klanginstallation „Fysikaalinen Rengas“ der beiden finnischen Künstler Mika
       Taanila und Mika Vainio. Sie basiert auf Found-Footage,
       Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Physikexperimenten, die Taanila im Filmarchiv in
       Helsinki ausgegraben hat, und der klopfenden Klangkulisse von Vainio
       (1963–2017), Pionier des finnischen Techno. Flackernde Filmbilder werfen
       konzentrische Kreise an die Wand, ein Holzhammer landet stets auf einem
       schwarzen Punkt. Erst von Vainios hauntologischem Wummern werden die Bilder
       zu neuem Leben erweckt.
       
       In-your-face-mäßiger wirken die flashigen Panorama-Videos der französischen
       Künstlerin Tabita Rezaire. Sie zeigt eine Augmented Reality inklusive
       GIF-Datei-Repetition, Überwachungskamerabilder, Endlos-Werbeschleifen,
       Infoscreen-Texten und Sekten-TV-Predigt und stellt das Material in einen
       Kontext zum Kolonialismus: Die Glasfaserkabel, durch die die Daten unter
       dem Atlantik fließen, verlaufen exakt da, wo einst die Sklavenschiffe
       segelten.
       
       Gegen Mitternacht steigt im Berghain die erste CTM-Clubnacht. Der Club
       Bassiani aus Tiflis ist prominent im Line-Up vertreten. Gut, dass die
       Heizungskörper auf Anschlag sind, so taut man nach der Kältestarre wieder
       auf. Behaglich ist zudem der Sound des georgischen DJs HVL. Mit
       Fieldrecordings wie dem Knirschen von Gesteinsbrocken und Geröll und dem
       Echosound einer Maultrommel verwandelt der DJ aus Tiflis die
       Club-Kathedrale in das Haus von Rocky Docky. Nach 45 Minuten schält sich
       eine Bassdrum aus dem Umweltkrach heraus und dockt an
       Post-Industrial-Techno an. Oben in der Panorama Bar legt etwas später die
       Londoner DJ Kikelomo auf: Ihr Mash-Up aus Drill, Grime und Baile Funk
       fordert energisch die Peak Hour und zieht die TänzerInnen wie die Motten
       zum Licht. Ein Blick nach draußen gegen Viertel vor drei: Die Schlange
       misst 300 Meter.
       
       ## „Ich würde sogar mit dem Teufel vögeln“
       
       Am Samstagabend im HAU beim Festredendelirium vor dem Eröffnungskonzert
       führt Berlins Kultursenator Klaus Lederer das Festival als Gradmesser einer
       Auseinandersetzung mit der technischen Entwicklung der Gesellschaft auf.
       Bestimmter wird es bei der Kollaboration der beiden indonesischen Musiker
       von Tarawangsawelas mit dem libanesischen Produzenten Rabih Beaini. Beim
       Aufeinanderprallen von archaischer Klangvielfalt und amtlicher Elektronik
       durch zwei Streichinstrumente in der Verschaltung mit zeitgenössischen
       Looppedalen, im delikaten Zupfen und Streichen von Zither und zweisaitigem
       Cello und dem Fiepen der Effektgeräte wird im Hebbel-Theater das
       Raum-Zeit-Kontinuum für eine Weile außer Kraft gesetzt.
       
       Das, was die queere Performance-KünstlerIn Linn da Quebrada aus São Paulo
       nach der Pause auf der Bühne aufzieht, muss verdaut werden: Ihr expliziter
       Auftritt mit Bezug zu schwulen Sexpraktiken, Prostitution und Promiskuität
       stellt sich radikal gegen den Law-and-Order-Diskurs des amtierenden
       brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. „Ich würde sogar mit dem Teufel
       vögeln“, singt da Quebrade unbekümmert. Oft singt sie auch von Mut. Vier
       der sieben KünstlerInnen sind Crossdresser.
       
       Zur Begrüßung werden dem Publikum erst mal die Allerwertesten gezeigt:
       zünftig schwabbelndes Twerking. Auf der Leinwand blinken drei Worte: Arsch,
       Arsch, Arsch. Die ProtagonistIn wie ein Abbild von Prince, nur näher am
       Äquator. Wo Prince einst vieles in der Schwebe hielt und virtuos in die
       Musikkultur eintauchte, ist bei da Quebrada alles überexplizit. Das mag
       empowernd sein, darunter leidet allerdings die Musik. Und das ist das Manko
       des Auftritts, dass hier die Anteile von Baile Funk wenig entwickelt sind
       und die Arbeit der anwesenden Percussionistin so gut wie nicht zu hören
       ist, während an der Rampe eine sexpositive Explosion nach der anderen
       stattfindet.
       
       27 Jan 2019
       
       ## LINKS
       
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