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       # taz.de -- Sozialwissenschaftler über „Neue Autorität“: „Wir brauchen das nicht“
       
       > „Neue Autorität“ soll Hamburgs Lehrernachwuchs fit machen. Der
       > Sozialwissenschaftler Tilman Lutz findet die Rückbesinnung auf den
       > Autoritätsbegriff falsch.
       
   IMG Bild: Gescheiterte Autorität: Lehrer Lämpel aus „Max und Moritz“
       
       taz: Herr Lutz, Sie sind als Hochschullehrer mit der [1][„Neuen Autorität“]
       befasst. Und Sie sagen: Das hat auch positive Aspekte. 
       
       Tilman Lutz: Ich würde eher sagen, es ist attraktiv. Denn das Konzept
       verspricht Handlungssicherheit für Pädagogen oder Eltern, die sich als
       hilflos sehen.
       
       Wie funktioniert das? 
       
       Das Konzept nimmt erst mal nur das Handeln der „Autoritätsperson“ in den
       Blick. Damit eröffnet sich – das finde ich positiv – Raum zur
       Selbstreflexion. Das zielt darauf, Eskalation zu vermeiden. Und das Konzept
       ist attraktiv, weil es sich vom alten Verständnis von Autorität abgrenzt
       und neue pädagogische Leitlinien wie Nähe, Achtung, Würde, Wiedergutmachung
       ins Zentrum stellt.
       
       Aber Sie sehen auch Gefahren? 
       
       Ja, wobei ich zwischen Konzept und Praxis unterscheide. Im Konzept bleibt
       die Herstellung einer verloren geglaubten Autorität im Fokus. Die jungen
       Menschen werden nur sehr bedingt als Subjekte wahrgenommen, die eigene
       Rechte haben und mit denen in pädagogische Aushandlungsprozesse gegangen
       wird. Das Konzept spricht von „einseitigem Handeln“. Das verspricht
       Handlungssicherheit, aber damit wird vernachlässigt, was die Wissenschaft
       den „pädagogischen Bezug“ nennt. Dass jede Erziehungssituation immer beide
       gestalten: der junge Mensch und die Erziehenden.
       
       Ein Beispiel? 
       
       Gut finde ich das Aufschieben von Konflikten. Dass in einer eskalierenden
       Situation der Erwachsene sagt: Wir klären das später. Aber dann wird das
       Konzept unterschiedlich interpretiert. Streng nach dem Konzept entscheidet
       der Erwachsene allein, wann, wo und mit welchem Inhalt der Konflikt wieder
       aufgegriffen wird. Der junge Mensch nicht. In der Umsetzung in Wohngruppen,
       das höre ich von Trägern, können auch die jungen Menschen mitbestimmen,
       wann und wie der Konflikt wieder bearbeitet wird. Sie können auch sagen:
       Ich kann jetzt noch nicht.
       
       Die Neue Autorität wird in der Behördenpublikation „[2][Hamburg macht
       Schule]“ vorgestellt. Dort bestimmt eine Lehrerin, dass ein Junge in der
       Pause auf der Bank sitzen und ihrer Botschaft zuhören muss. 
       
       Da ist die Neue Autorität konsequent umgesetzt. Es geht nur um einseitiges
       Handeln. Da fehlt, dass auch der Schüler Teil der Situation ist. Seine
       Bedürfnisse und der subjektive Sinn seines Handelns sind ausgeblendet. Die
       Autorität definiert, wann, was getan wird. Damit wird der „pädagogische
       Bezug“ halbiert oder ignoriert.
       
       Wird [3][das Konzept] in Schule und Jugendhilfe verschieden umgesetzt? 
       
       Es wird in beiden Bereichen unterschiedlich angewendet. Man kann es
       autoritärer oder partizipativer tun. Auch die Lehrerin ist nicht gezwungen,
       alles einseitig zu bestimmen. Sie könnte das mit dem Schüler aushandeln,
       versuchen zu verstehen, was die Gründe für sein Handeln sind. Aber das
       Konzept sieht das nicht vor. Das ist meine Kritik. Es geht zentral davon
       aus, dass die Autorität verloren ist und wieder etabliert werden muss.
       
       In unserer Gesellschaft? 
       
       Ja. Da wird ein kulturpessimistisches Bild gemalt, nach dem Motto: Früher
       war alles besser. [4][Diese Klage kennt man seit Sokrates.] Das ist als
       Gegenwartsdiagnose nicht tragfähig und als zentrales Ziel
       hochproblematisch.
       
       Eltern dürfen ja nicht mehr schlagen. Will man die Elternmacht zurück? 
       
       Es geht der Neuen Autorität, das muss man ihr zugutehalten, um eine andere
       Form von Elternmacht. Es heißt, es gehe darum, das Entweder-Oder von
       Disziplin und Partnerschaftlichkeit zu überwinden. Gleichzeitig wird aber
       die Hierarchie zwischen Erziehenden und Zöglingen, also die generationale
       Ordnung, einseitig ins Zentrum gestellt. Die soll wieder gelten. Also: Die
       Erwachsenen entscheiden, was richtig und falsch ist. Sie bewerten Verhalten
       als positiv oder negativ. Die Sinnsetzung durch Kinder und Jugendliche ist
       irrelevant und wird nicht erwähnt.
       
       Erwachsene müssen Kinder in die Welt einführen. 
       
       Stimmt. Aber das muss partizipativ sein. Kinder müssen als Subjekte
       anerkannt werden und mit gestalten.
       
       Was ist denn ein No-Go? 
       
       Die Idee, so eine hierarchische Form von Autorität wieder einführen zu
       müssen. Das andere No-Go ist, dass in dem Konzept auf gewaltfreien
       Widerstand Bezug genommen wird, auf Martin Luther King und Gandhi, die als
       strukturell Ohnmächtige gegen die Mächtigen gewaltlosen Widerstand
       leisteten. Das ist nicht übertragbar auf Erziehung in Familien – wenn, dann
       nur in sehr verstrickten Lagen, wo Gewalt zwischen jungen Menschen und
       Eltern herrscht. Aber auf keinen Fall auf Institutionen wie die Schule, wo
       es eine Machtasymmetrie gibt. Ohnmächtige Lehrer kann es in der Schule
       eigentlich nur situativ geben. Denn dort sind die jungen Menschen den
       Lehrern strukturell unterlegen.
       
       Woran machen Sie das fest? 
       
       Schüler werden bewertet. Sie sind schulpflichtig. Die Macht steht klar auf
       Seite der Lehrer. Die können mal hilflos sein, aber sie sind nicht in der
       ohnmächtigen Rolle. Berufen sie sich da auf gewaltfreien Widerstand, wird
       Gewalt verbrämt. Ein Beispiel ist das „Sit-in“ im Kinderzimmer, das oft
       zitiert wird. Da behindern teilweise die Erwachsenen das Kind am Verlassen
       des Zimmers. Mir ist schleierhaft, wie man das nicht als Gewalt deuten
       will. Und auch eine Suspendierung von der Schule wird für ein Kind nicht
       erträglicher, nur weil Erwachsene es dabei begleiten.
       
       Die Vertreter des Konzepts bestreiten, dass Kinder beschämt werden. 
       
       Doch. Das ist Konsequenz dieser Einseitigkeit. Die Erwachsenen können ihr
       Handeln als nicht beschämend oder gewaltfrei definieren. Damit ist aber
       nicht gesagt, dass die Kinder es so wahrnehmen. Angesprochen wurde ja auch
       die Methode des Hinzuziehens von Unterstützern, die per Telefon oder SMS
       dem Kind sagen, dass sie ein Verhalten für inakzeptabel halten. Ich finde,
       das ist Mobbing.
       
       Ist das denn Praxis? 
       
       Ich habe nur Einblick in die Praxisstellen, wo unsere Studierenden sind.
       Mit diesen gibt es dazu auch einen konstruktiven Austausch. Dort habe ich
       das nicht gehört. Die gehen eher partizipativ vor. Trotzdem bleibt der neue
       Bezug zur Autorität für mich hoch problematisch.
       
       Warum braucht man das? 
       
       Wir brauchen das nicht. Wie ich sagte, es gibt positive Elemente, also das
       bedingungslose Annehmen: „Ich bin für dich da, ich lass dich auch nicht in
       Ruhe, ich bin da, auch wenn du das nicht möchtest.“ Das ist gerade in der
       Jugendhilfe eine sehr positive Haltung, die dem entgegenwirkt, dass
       Jugendliche wegen ihres Verhaltens schnell in andere Wohnformen abgeschoben
       werden. Es ist Teil der Neuen Autorität, das sie ihren Erfolg nicht daran
       misst, ob das Kind sein Verhalten schnell ändert, sondern inwiefern die
       Autoritätspersonen sich als selbstwirksam erleben. Nur könnte man das auch
       anders begründen: mit der Einbeziehung der Stimme der Kinder und unter
       Wahrung der Kinderrechte. Auch Kinder brauchen die Erfahrung von
       Selbstwirksamkeit.
       
       Was wäre die Alternative? 
       
       Schwierige Frage. Ein Beispiel wäre Kurt Hekeles „Subjektorientierung“.
       Alternativen lassen sich nicht mit drei Worten umreißen, weil sie
       reflexiver sind, schwieriger schnell darzustellen. Trotzdem sind sie
       erfolgreicher. Sie ermöglichen umfassende Partizipation, nicht nur bei der
       Lösung eines Problems, das die Erwachsenen definieren, sondern auch bei der
       Problemdefinition. Dies trägt eher dazu bei, dass junge Menschen
       eigenständige Mitglieder der Gesellschaft werden.
       
       31 Jan 2019
       
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   DIR [3] /!5516360/
   DIR [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Griechischer_Pessimismus
       
       ## AUTOREN
       
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