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       # taz.de -- „Die verlorene Oper“ in Hannover: Scheitern am Scheitern
       
       > Dramatiker Albert Ostermaier und Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson
       > machen sich auf die Suche nach einem nie realisierten
       > Brecht/Weill-Gesamtkunstwerk.
       
   IMG Bild: Auch Arnarssons bunte Bühnenfantasien können den Abend nicht retten
       
       Hannover taz | Kunst ist nichts anderes als eine Form der Arbeit, die
       scheitern kann und darf. Die Malocher von „Die verlorene Oper. Ruhrepos“
       erklären das zu ihrer Kunstform. Der bei den Ruhrfestspielen im vergangenen
       Jahr uraufgeführte Abend feierte nun Hannover-Premiere. Aussichtslos
       scheint das Projekt: Ein aus der Vergangenheit mit keinem Wort, keiner Note
       überliefertes Werk über das größte Industrierevier Deutschlands soll neu
       verloren und dabei der Verlust des Ruhrkohlepotts thematisiert werden.
       
       Schlöte, Zechen, Kokereien und Stahlwerke sind stillgelegt, Halden,
       Geröllberge, Museumsschächte und das Steigerlied erinnern noch an
       identitätsstiftend ruhmreiche Historie. Wohl nirgendwo sonst als am
       Nordrhein ist eine Landschaft Deutschlands derart aufgerissen, umgewälzt,
       ausgehöhlt, wieder zugeschüttet, überbaut und so auf engstem Raum
       urbanisiert worden. Mit der Förderung der letzten Lore Steinkohle auf
       „Prosper Haniel“ in Bottrop gab am 21. Dezember 2018 die letzte dieser
       einst 150 Montangruben im Ruhrgebiet auf.
       
       Ein Requiem: Der derbe Feingeist Albert Ostermaier wurde beauftragt, es zu
       schreiben, der bildmächtig inszenierende Thorleifur Örn Arnarsson soll es
       auf die Bühne fantasieren. In memoriam Bert Brecht, der 1927 mit Komponist
       Kurt Weill und Filmemacher Carl Koch den Auftrag erhalten hatte, für die
       aufstrebende Oper in Essen ein „Ruhrepos“ zu kreieren über die Ausbeutung
       von Mensch und Natur als Gesamtkunstwerk der Maschinenmoderne.
       
       Prompt wurde gegen Weill als Juden und den Antikapitalisten Brecht gehetzt,
       die Auftraggeber bekamen kalte Füße und sagten die Uraufführung ab. Exposé
       und Schriftwechsel der Beteiligten sind nun im Programmheft dokumentiert.
       
       Um all das dem Publikum heute zu vermitteln, sitzt das Ensemble in
       1920er-Jahre-Bürotracht an der Rampe, betreibt Stummfilmslapstick mit
       kaputten Stühlen und flackernden Lampen, wechselt dann in den Tonfilmmodus
       und verliest Rechercheergebnisse über die expressionistisch golden
       glitzernden 1920er-Jahre in Berlin. Das hat die Anmutung einer ersten
       Lesung im Probenraum.
       
       Also garnieren die Darsteller ihre solistischen und chorischen Darbietungen
       ganz wie im echten Künstlerleben mit flammenden Eitelkeiten, Streitattacken
       und mauligen Anfällen von Beleidigtsein. Aljoscha Stadelmann kritisiert,
       dass Worte wie Goebbels, SS und Führer-Schein im Textbuch stehen, aber doch
       nicht schon wieder ein Abend über Nationalsozialismus entstehen soll. Der
       Mime rutscht dann aber peu à peu in die Rolle Brechts, gibt ihn (mit Worten
       aus seinen Briefen) betont unsympathisch als Pornograf, Frauenaufreißer und
       Fußfetischist, macht Rilkes Poesie mal eben als „schwul“ lächerlich – und
       sich selbst, indem er ständig in den Vordergrund drängt und Dialekte
       ausprobiert.
       
       Seine Erstbegegnung mit Weill, dem Mathias Max Hermann etwas seriös
       Trotteliges gibt, kommt wie Michelangelos „Erschaffung Adams“ daher: Wenn
       sich beider Finger berühren, ist zur Illustration der elektrisierenden
       Wirkung ein Schild mit der Kreideaufschrift „Britzel“ zu sehen. Immer
       wieder wird auch ein Gemeinschaft bildendes Ritual vollzogen: Arme
       schnellen in die Höhe, damit sie ein V über dem Kopf bilden – als Verweis
       auf den von Brecht propagierten Verfremdungseffekt.
       
       Statt der Inszenierung ihre Erarbeitung ironisch auf die Bühne zu heben,
       ist deutlich weniger unterhaltsam, als es die Beteiligten wohl erhofft
       hatten. Leider ist jetzt schon eine Aufführungsstunde vorbei. Die nächste
       gehört Ostermaier-Darsteller Jakob Benkhofer. Angefeuert vom Regisseur
       scheitert er in peinvoll eitel auf Tragödie getrimmten Monologen an der
       Unmöglichkeit, ein Stück zu rekonstruieren, das Brecht nicht geschrieben
       hat.
       
       Und an der Frage, wie politisches Theater heute funktionieren könnte,
       garniert mit bildungsbürgerlichen Späßen.So nutzen die Darsteller der
       beiden Literaten die hin- und herstiebitzte Brecht-Mütze als Tarnkappe –
       als wären sie Siegfried und Zwerg Alberich in Wagners „Ring des
       Nibelungen“. Irgendwann vermuten sie, dass es nur ein allzu langer Witz
       sei, den sie da aufführen – leider haben sie recht. Ostermaier notiert ins
       Programmheft, wie sein wohl tatsächlich verfertigtes „Ruhrepos“ während
       der Proben verloren ging und räsoniert über sein „Ende als Dramatiker“.
       
       Und auch die Bühnenbildnerin kommt nicht zum Zuge. Auf die Frage, ob ihre
       Entwürfe umgesetzt werden können, antwortete das Staatstheater in einer
       Mail mit einem „eindeutigen Nein“. Hubert Wild singt diese Mitteilung – so
       innig verträumt, wie er auch Schubert-Lieder intoniert. Derweil lässt die
       Kostümbildnerin ihre nicht benötigten Entwürfe als Modenschau vorführen.
       Nun sind zwei Stunden vergangen und es war nicht mehr zu erleben als die
       Blockade von Autor, Regie und Darstellern, mit der künstlerischen
       Aufgabenstellung etwas anzufangen.
       
       Nach der Pause sind die Parkettreihen deutlich gelichtet. Endlich geht es
       um Kohle. Fix wird die Geschichte des Bergbaus heruntergerattert und die
       Vorderbühne mit schwarzen Plastikkugeln geflutet. Das Ensemble stolpert
       durchs Bällebad, legt Kunstrasen darauf, denkt über Renaturierung nach. Zu
       Wagners Lohengrin-Vorspiel läuft ein romantischer Bergbau-Clip, ein in
       Frührente abgeschobener echter Kumpel kommt kurz zu Wort.
       
       Schimpfkanonaden aus dem Ruhrpottlexikon erklingen, während Requisiten auf
       der Drehbühne rotieren, die an diesem verlorenen Abend über ein verlorenes
       Stück über eine verlorene Tradition nicht gebraucht werden. Wohl aber
       einige Verse aus Ostermaiers Lyrikwerkstatt, pompös mit Live-Video
       inszeniert kommen sie melancholisch daher. Eine doch noch dezent poetische
       Einlassung aufs Scheitern – nach weit über drei disparaten Stunden, von
       denen man sich gewünscht hätte: mehr Inhalt, weniger Nabelschau.
       
       Weitere Aufführungen: 16. + 17. 3., Schauspielhaus Hannover
       
       3 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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