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       # taz.de -- Indiens Kastensystem: Dalits sollen soziale Tabus brechen
       
       > Das gesellschaftliche Bild von „Unberührbaren“, Dalits, hat sich trotz
       > Abschaffung des Kastensystems gehalten. Ein Journalist will das ändern.
       
   IMG Bild: Der Journalist Chandra Bhan Prasad hat 2017 das Magazin „The Dalit Enterprise“ gegründet
       
       Delhi taz | Wenn Chandra Bhan Prasad in seine Apartmentwohnung in Delhi
       lädt, Zitronengrastee serviert und mit ausladenden Gesten über den Status
       quo seines Heimatlandes debattiert, dann umgibt ihn jener geschwätzig
       intellektuelle Flair eines typischen Journalisten aus der indischen
       Hauptstadt. Nur wenig erinnert noch an seine Herkunft; dass Prasad nämlich
       ein Dalit ist, ein sogenannter Unberührbarer. Jemand, der sein Alter nur
       vermuten kann, weil seine Geburt nie bei den Behörden dokumentiert wurde.
       
       „Als ich aufgewachsen bin, hat das Kastensystem eine fundamentale Rolle
       gespielt. Es hat sämtliche Regeln des Lebens bestimmt“, sagt er. Als der
       Junge etwa durch sein Heimatdorf im nordindischen Uttar Pradesh radelte,
       stieg er wie selbstverständlich von seinem Rad, bevor er das Reichenviertel
       passierte. Manche Gegenden betrat Prasad gar nur, nachdem er zuvor seine
       Schuhe ausgezogen hatte.
       
       Vor über 70 Jahren erlangte Indien seine Unabhängigkeit, und ebenso lange
       ist das [1][Kastensystem bereits abgeschafft]. Obwohl mittlerweile etliche
       Dalit die gesellschaftliche Leiter hinaufgestiegen seien, hätte sich die
       mediale Wahrnehmung über die Kastenlosen seither kaum geändert: Seine
       Community, sagt Prasad, würde stets in der gesellschaftlichen Opferrolle
       dargestellt – arm, hilflos, primitiv. Niemals jedoch würden Dalit in den
       Medien als Leistungsträger abgebildet.
       
       Sein im Herbst 2017 gegründetes Magazin The Dalit Enterprise versucht diese
       Schieflage nun auszugleichen. Angelehnt an Black Enterprise, das 1970 aus
       der afroamerikanischen Community heraus gegründet wurde, erscheint es jeden
       Monat in 100 farbigen Seiten, auf denen erfolgreiche Dalit-Unternehmer
       porträtiert werden. Jene Leute also, die in den landesweiten Medien nicht
       vorkommen.
       
       Finanziert wird die Redaktion mit acht Vollzeitmitarbeitern dank
       Spendengelder zweier Unternehmerfamilien aus der Parsen-Gemeinde – jener
       wohlhabenden Minderheit, die im 8. Jahrhundert aus Zentralasien nach Indien
       emigriert ist. Die gedruckte Auflage spielt nur eine untergeordnete Rolle.
       Komprimiert auf 20 Megabit wird das Magazin vorrangig als kostenlose
       PDF-Datei per WhatsApp heruntergeladen und bis in die hintersten Winkel des
       Landes weitergeleitet.
       
       Die Geburtsstunde für den Aufstieg der Dalit-Unternehmer kam mit den
       Wirtschaftsreformen der frühen Neunziger, als sich das ehemals
       sozialistische Indien marktwirtschaftlich öffnete: Viele der Dalits zogen
       in Folge dessen in die großen Städte, wo sie etwa in Fabriken Arbeit
       suchten. Folglich waren sie nicht mehr von ihren Landbesitzern abhängig.
       Ja, mehr noch: Im anonymen urbanen Raum konnten einige von ihnen auch
       mental die [2][Fessel der Kastenhierarchie] ablegen.
       
       Chandra Bhan Prasad ist das beste Beispiel: Sein Vater, der einst für die
       britische Kolonialregierung arbeitete, konnte es sich als einer von wenigen
       Dalit leisten, seine Kinder zur Schule schicken. Der älteste Sohn wurde
       schließlich Polizeioffizier. Prasad konnte gar mithilfe des Quotensystems
       und hartem Fleiß einen Platz an der prestigeträchtigen Nehru-Universität in
       Delhi ergattern. Als erster Dalit heuerte er schließlich bei einer
       landesweiten Tageszeitung an, schrieb wöchentliche Kolumnen und
       kommentierte das politische Geschehen. Bereits in jungen Jahren hatte er
       verinnerlicht, stets exzellent sein zu müssen – besser als die anderen. So
       wurde Prasad schließlich zum Vorbild für seine Community.
       
       ## Kapitalismus wird das Kastensystem vernichten
       
       Wer ein Exemplar von The Dalit Enterprise aufschlägt, kann jeden Monat den
       Werdegang von über einem Dutzend role models nachlesen. Die Dezemberausgabe
       widmet sich etwa Dalit-Unternehmern in der Hotelbranche, zuvor wurden
       Dalits porträtiert, die Krankenhäuser führen. „Die Leute, über die wir
       berichten, werden respektiert – weil sie mittlerweile als hohe Kasten
       gelten. Das ist die Macht des Kapitalismus“, sagt Chandra Bhan Prasad.
       
       Seine These gilt als umstritten. Erstaunlich ist sie allemal, weil sie von
       einem [3][ehemaligen Maoisten stammt]. In seiner Jugend schloss sich Prasad
       aus Frust gegenüber dem System für drei Jahre lang dem Kampf der Naxaliten
       an; jenem indischen Ableger des Maoismus, der aufgrund seiner
       Gewaltbereitschaft für die Zentralregierung in Delhi als größte Bedrohung
       der inneren Sicherheit gilt. Jahrzehnte später jedoch hält also
       ausgerechnet ein ehemaliger Kommunist das staatliche Quotensystem für
       paternalistisch – und glaubt, dass sich die Dalits dank des Kapitalismus
       befreien können.
       
       „Kapitalismus hat weltweit den Feudalismus vernichtet – und wird
       letztendlich auch das Kastensystem zerstören. Mir geht es jedoch nicht nur
       darum, dass Dalit gutes Geld machen, sondern sie sollen auch soziale Tabus
       brechen. Und der größte Tabubruch für uns ist es, wenn wir unsere eigenen
       Firmen gründen – und Angehörige höherer Kasten als Arbeiter anstellen“,
       sagte er.
       
       ## Mehrheit der Dalits wird diskriminiert
       
       Statistisch gesehen kommt das indische Wirtschaftswachstum von jährlich
       rund sieben Prozent höchst ungleichmäßig bei der Bevölkerung von 1,3
       Milliarden Menschen an. Zwar hievt es jährlich Millionen Inder aus der
       Armut, gleichzeitig jedoch ist die Wohlstandsverteilung noch ungerechter
       als etwa in China oder den USA. Laut Zahlen des Forschungsinstituts Credit
       Suisse besitzen die obersten zehn Prozent fast vier Fünftel aller
       Reichtümer des Landes, während die unteren zwei Drittel der Bevölkerung nur
       auf 4,7 Prozent Zugriff haben.
       
       Die rund 250 Millionen Dalits genießen zwar ein weltweit einmaliges
       Quotensystem in Universitäten und staatlichen Betrieben. Das Gros an
       „Unberührbaren“ ist jedoch weiterhin in Armut und Diskriminierung gefangen.
       Zudem werden Dalits noch immer häufiger Opfer von Ausschreitungen und
       körperlicher Gewalt – oftmals aus den trivialsten Gründen.
       
       Im Juni 2018 etwa wurden drei Buben in einem Dorf in der Provinz
       Maharashtra verprügelt, nackt ausgezogen und im Dorf zur Schau gestellt,
       nur weil sie in der Quelle eines höheren Kastenmitglieds gebadet hatten. In
       Gujarat kam es zu Ausschreitungen, nachdem ein 22-jähriger Dalit auf
       Facebook seinem Profil eine Namensendung gab, die laut hinduistischer
       Traditionen ausschließlich für höherrangige Kasten reserviert ist.
       
       ## In Bildung investieren
       
       Es ist bezeichnend, dass der Dalit Prasad ausgerechnet in der scheinbar
       liberalen, weltoffenen Medienbranche allein auf weiter Flur steht. In den
       Redaktionen des Landes sind nur wenige Angehörige der niederen Kasten
       angestellt. Als im Dezember etwa fünf indische Staaten zur Lokalwahl
       antraten, hat kein einziger Fernsehsender einen Dalit als Kommentator
       angeheuert.
       
       Wann immer Prasad heutzutage sein Heimatdorf besucht, rät er den Bewohnern:
       Sie sollen ihr Vieh verkaufen, denn deren Aufzucht benötigt die Mitarbeit
       ihrer Kinder und hält sie von der Schule fern. Sie sollen nicht in Land
       investieren, sondern in die [4][Bildung ihrer Söhne und Töchter]. Ebenso
       ist das Erlernen von Englisch wichtig – als kastenneutrale Sprache der
       Wissenschaft und der globalen Welt. „Wenn wir uns auf Hindi begrüßen, dann
       beugen wir uns mit unserem Kopf automatisch nach unten und falten die
       Hände. Ganz anders bei einem good morning, da ist die Körperhaltung schon
       eine ganz andere.“
       
       Ob seine Mission von The Dalit Enterprise tatsächlich zum
       gesellschaftlichen Wandel beitragen kann? Chandra Bhan Prasad antwortet
       schmunzelnd mit einer Anekdote: Vor einigen Wochen sei er einem
       Steuerbeamten begegnet, der – nach der Lektüre des Magazins – einen
       fürchterlichen Wutanfall bekam. „Er hat mich als Betrüger bezeichnet – und
       sagte mir ungläubig: Erfolgreiche Unternehmer in Anzügen – das können doch
       keine Dalit sein!“
       
       3 Feb 2019
       
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       ## AUTOREN
       
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