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       # taz.de -- Geschlechterstereotype in Schulen: Mehr Vielfalt im Klassenzimmer
       
       > Grüne und FDP kritisieren, dass sich Niedersachsens Kultusministerium zu
       > wenig dafür einsetze, die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher
       > Identitäten zu thematisieren.
       
   IMG Bild: Sollte auch im Klassenzimmer als normal angesehen werden: ein lesbisches Paar
       
       Hannover taz | Das Foto in dem Französischbuch, mit dem die Lehrerin Julia
       Schmidt arbeitet, zeigt eine sandige Motocross-Strecke. Im Vordergrund
       stehen vier Teenager. Die beiden Mädchen sitzen in Rennmontur auf ihren
       Maschinen. Die Jungs stehen daneben, einer lehnt sich lässig gegen eines
       der Motorräder. Es wird geflirtet – und Schmidt hat daran Kritik.
       „Liebesbeziehungen gibt es in diesem Schulbuch nur zwischen Jungen und
       Mädchen.“
       
       Zwar würden Geschlechterstereotype in den Lehrmaterialen aufgebrochen,
       sagt Schmidt, die an einer Integrierten Gesamtschule in Niedersachsen
       unterrichtet und ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.
       Mal gebe es einen Jungen, der gerne tanze oder motorradfahrende Mädchen,
       aber Homosexualität komme in den Abbildungen nicht vor – eine Kritik, die
       die Grünen in Niedersachsen teilen.
       
       „Noch immer werden Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sexuellen oder
       geschlechtlichen Identität gemobbt“, sagt die Landtagsabgeordnete Julia
       Willie Hamburg. Einen Grund dafür sieht sie darin, dass sexuelle Vielfalt
       und geschlechtliche Identitäten in der Schule kaum Thema seien. „Die Angst
       vor dem Outing steigt, wenn es nicht zur Lebensrealität in der Schule
       gehört“, sagt Hamburg. „Die Landesregierung nimmt dieses Problem nicht
       ernst.“
       
       Schon 2014 hat die damalige rot-grüne Regierung gemeinsam mit der FDP
       Maßnahmen festgeschrieben, um sexuelle und geschlechtliche Identitäten in
       der Schule zu thematisieren. Die Aus- und Fortbildung von Lehrern soll
       demnach Angebote zum Thema enthalten, das Land Anti-Mobbing-Projekte
       fördern, die Lehrpläne aller Klassenstufen sollen die Lebenswirklichkeit
       von Menschen verschiedener sexueller Identitäten berücksichtigen.
       
       Dies soll auch zum Kriterium für die Zulassung von Schulbüchern werden.
       „Wir sind entsetzt, wie wenig da passiert ist – auch unter Rot-Grün“, sagt
       Hamburg. Das Kultusministerium könne die Verlage verpflichten, das Thema
       aufzunehmen. „In einer Sachaufgabe in Mathe würde dann das schwule Paar für
       die Oma einkaufen gehen“, sagt Hamburg. Doch die Landesregierung will den
       Verlagen keine zusätzlichen Vorgaben machen.
       
       In einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen heißt es, Schulbücher würden
       nicht unter besonderer Berücksichtigung eines speziellen Kriteriums
       überprüft. Dies sei zu aufwendig. Die Verlage müssten versichern, dass die
       Inhalte mit den Bestimmungen des Kultusministeriums übereinstimmten. „Dazu
       gehört die Vereinbarkeit mit dem Bildungsauftrag der Schule, der wiederum
       die angemessene Berücksichtigung des Themas Vielfalt sexueller Identitäten
       beinhaltet“, schreibt die Landesregierung.
       
       So sei das Thema automatisch Bestandteil des Genehmigungsverfahrens – nur,
       dass es in vielen Lehrbüchern laut Schmidt und Hamburg nicht ankommt.
       „Sollten Hinweise darauf eingehen, dass dies nicht der Fall ist, ist eine
       anlassbezogene Überprüfung vorgesehen“, antwortet Ministeriumssprecherin
       Jasmin Schönberger dazu auf Anfrage der taz.
       
       Insgesamt sieht sich das Kultusministerium bei dem Thema gut aufgestellt.
       Die Behandlung verschiedener sexueller Identitäten sei mittlerweile in
       allen Kerncurricula vorgesehen. Lehrer*innen könnten sich von
       Beratungslehrer*innen, Sozialarbeiter*innen oder Schulpsycholog*innen
       unterstützen lassen. „Bei Bedarf können die eigenverantwortlichen Schulen
       aus den ihnen zur Verfügung gestellten Budgets Fortbildungen zu diesen
       Themen durchführen“, sagt Schönberger. Das Kultusministerium plane
       „Angebote zu entwickeln, die die Lehrkräfte zusätzlich bei dieser Thematik
       unterstützen“. Zudem fördert das Land das SCHLAU-Projekt, das sich an
       Schulen gegen Diskriminierung einsetzt.
       
       ## Keine Vorbereitung im Referendariat
       
       Dennoch sind auch der Lehrergewerkschaft GEW die Anstrengungen des
       Ministeriums zu gering. „In fast allen niedersächsischen Kerncurricula wird
       das Themengebiet sexuelle und geschlechtliche Identitäten nur im Rahmen
       einer Präambel erwähnt“, kritisiert die GEW-Landesvorsitzende Laura Pooth.
       „Es erfolgt keine weitere Auseinandersetzung.“ Konkrete
       Kompetenzerwartungen würden an die Lehrer nicht gestellt. Für Lehrerin
       Schmidt beginnt das Problem bei der Ausbildung: „Ich bin nicht auf das
       Thema vorbereitet worden – auch im Referendariat nicht.“ Das hat sie vor
       drei Jahren in Niedersachsen abgeschlossen.
       
       Der FDP-Abgeordnete Björn Försterling wünscht sich für die Lehrer*innen
       konkrete Handreichungen vom Kultusministerium zum Umgang mit
       Diskriminierung. „Aber die Landesregierung delegiert die Verantwortung an
       die Schulen“, sagt Försterling. Ein Blick in die Klassenzimmer zeige, wie
       wichtig das Thema sei. „Das geht damit los, dass ‚Schwuchtel‘ noch immer
       ein Schimpfwort ist.“
       
       4 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Maestro
       
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