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       # taz.de -- Sozialaktivisten in Kolumbien: Fast alle 48 Stunden ein Mord
       
       > Nirgendwo leben Sozialaktivisten so gefährlich wie in Kolumbien. Die
       > Regierung lässt bedrohliche kriminelle Strukturen unangetastet.
       
   IMG Bild: Kolumbiens Friedensprozess ist nicht nur durch den jüngsten Anschlag gefährdet
       
       Bogotá taz | Die Mörder kamen zum Haus von Leonardo Nastacuas Rodríguez und
       töteten den 36-jährigen Anführer der indigenen Awá mit mehreren Schüssen.
       Dann verschwanden sie. Bis heute ist unbekannt, wer sie sind. Nastacuas
       Rodríguez ist einer von mindestens neun Aktivist*innen, die seit
       Jahresbeginn ermordet wurden, weil sie sich für ihre Rechte und die ihrer
       Gemeinschaft einsetzen – und der kolumbianische Staat sie nicht ausreichend
       schützte. Alle waren sie in ihren Gemeinden und Vereinigungen organisiert.
       
       Nirgends leben Menschen, die sich politisch oder ökologisch engagieren, so
       gefährlich wie in Kolumbien. Das besagt der aktuelle Bericht der
       internationalen Menschenrechtsorganisation Front Line Defenders. Demnach
       wurden 2018 in Kolumbien 126 Menschenrechtsverteidiger*innen ermordet. Das
       waren mehr als doppelt so viele als in Mexiko, dem zweitgefährlichsten Land
       in dem Report. Die kolumbianische Nichtregierungsorganisation Indepaz geht
       sogar von 226 Opfern aus, die staatliche Ombudsstelle Defensoría del Pueblo
       von 172. Die deutliche Mehrheit von ihnen waren Männer und lebten in den
       Departamentos Antioquia und Cauca.
       
       Drei der seit Jahresbeginn Getöteten waren Präsidenten des örtlichen
       Nachbarschaftsrats Junta de Acción Comunal, einer war Bauernvertreter,
       einer kämpfte in seiner Region gegen die Ausbeutung von Land und Boden
       durch Großkonzerne, einer machte Friedensarbeit, einer organisierte die
       Substitution von illegalen Drogenanbauflächen. Die einzige Frau, eine
       Afrokolumbianerin, engagierte sich für die Rechte von landvertriebenen
       Afrofrauen.
       
       Es wird vermutet, dass die Täter im Fall von Nastacuas Rodríguez zu
       illegalen bewaffnete Gruppen gehören, welche bereits mehrere Awá-Anführer
       ermordeten, weil sie die Ethnie von ihrem Land vertreiben wollen. Denn
       Nastacuas Rodríguez und seine Gemeinschaft wollen keinen illegalen
       Koka-Anbau auf ihrem Gebiet. Der Boden in ihrem Reservat eignet sich aber
       gut dafür. Die Gegend im südlichen Nariño ist zudem strategisch wichtig, um
       Handel mit Drogen und Waffen Richtung Ecuador und Pazifik zu treiben.
       
       ## Angehörige fürchten, selbst Opfer zu werden
       
       Die Zahlen im Bericht schwanken, weil manche Statistiken nur Opfer mit
       politischen Ämtern zählen, andere hingegen alle, die sich für
       Menschenrechte, Wiedergutmachung, Umweltschutz oder gegen Landraub
       engagieren und deshalb getötet wurden. Hinzu kommt eine Dunkelziffer, weil
       manche Angehörige nicht wollen, dass ihre Verwandten als ermordete
       Aktivist*innen publik werden. Sie fürchten, dann selbst Opfer der
       Mörder*innen zu werden, die meistens unbehelligt bleiben.
       
       Auch wenn die Staatsanwaltschaft sich kürzlich über eine
       Rekord-Mord-Aufklärungsquote von 29 Prozent freute (in Deutschland liegt
       sie seit Jahren bei über 90 Prozent), ist erfahrungsgemäß kaum ein/e
       Menschenrechtsaktivist*in darunter. Laut einer Analyse des von drei
       kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen getragenen Programms „Somos
       Defensores“ (Wir sind Menschenrechtsverteidiger) blieben zwischen 2009 und
       2017 insgesamt 91,4 Prozent der Morde an ihnen straffrei.
       
       Nach Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Santos-Regierung und der
       größten Rebellengruppe Farc im November 2016 ist die Mordrate in Kolumbien
       auf ein historisches Tief gesunken (und im vergangenen Jahr wieder leicht
       angestiegen). Nur für Aktivist*innen hat sich die Lage in derselben Zeit
       massiv verschlechtert. „Grund ist, dass die Regierung sich lange geweigert
       hat anzuerkennen, dass hinter den Morden ein System steckt“, sagt Diana
       Sánchez von „Somos Defensores“.
       
       Das sehen viele Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen
       genauso. Die Regierung habe bisher auf den Personenschutz einzelner
       Aktivist*innen gesetzt, statt grundlegende Strukturen zu ändern. So erhöhte
       diese das Budget für die Nationale Schutzeinheit UNP massiv, welche
       Bedrohte auf Staatskosten bewacht.
       
       ## 4300 Menschenrechtler*innen unter Personenschutz
       
       4.300 Menschenrechtsverteidiger*innen stehen aktuell unter Personenschutz.
       Es dürften mehr werden: Das Verfassungsgericht mahnte diese Woche an, dass
       die UNP bei der Entscheidung, ob sie Menschen beschützt, nicht mehr nur den
       konkreten Einzelfall berücksichtigen sollte, sondern die landesweite
       Gefahrensituation der zugehörigen Bevölkerungsgruppe.
       
       Doch das ändert nichts am grundlegenden Problem, sagt Sánchez: “Die
       Regierung muss die bewaffnete Gruppen bekämpfen, die hinter den Morden
       stecken, sowie Politiker, Beamte, Unternehmer, Großgrundbesitzer, die mit
       ihnen zusammenarbeiten oder sie beauftragen.“ Dazu müssten die Ermittlungs-
       und Anklagebehörden gestärkt werden.
       
       Ein erster Schritt ist, dass der kolumbianische Staat kürzlich erstmals
       anerkannt hat, dass hinter den Morden an den
       Menschenrechtsverteidiger*innen System steckt. Erstens seien die Hälfte der
       Opfer Mitglieder der Nachbarschaftsräte, der Juntas de Acción comunal,
       sagte Generalstaatsanwalt Néstor Humberto Martínez.
       
       Zweitens gehörten die Täter in den meisten Fällen einer von drei Gruppen an
       – dem größten Verbrecher*innenkartell Golf-Clan, der Drogenbande Caparrapos
       oder der ELN, der mittlerweile größten Rebell*innengruppe, mit der alle
       Friedensverhandlungen bisher gescheitert sind.
       
       ## Kampf um die Macht in früheren Farc-Gebieten
       
       Alle drei kämpfen um die Macht und die Kontrolle über den Drogenhandel in
       den Gebieten, die früher die Farc-Rebell*innen beherrschten. Die Folge sind
       nicht nur die Morde an Aktivist*innen, sondern auch die schlimmsten
       Vertreibungen seit fünf Jahren. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen
       2018 mehr als 30.000 Menschen innerhalb von Kolumbien vor der Gewalt.
       
       Der öffentliche Druck auf Präsident Iván Duque wächst seit der Mordserie im
       Januar weiter. Die Solidarität der kolumbianischen Gesellschaft mit den
       Aktivist*innen, die in Kolumbien jahrelang als Guerilla-Mitglieder
       diffamiert wurden, war noch nie so hoch, sagt Diana Sánchez: „Seit dem
       Friedensprozess setzt sich langsam durch, dass das ehrliche, fleißige,
       meist sehr arme Leute sind.“
       
       Massendemonstrationen wie 2018 habe es zuvor nicht gegeben. Duque hatte den
       Friedensvertrag massiv kritisiert. Seine Regierung hat die meisten darin
       festgeschriebenen Mechanismen, die Aktivist*innen schützen würden, bisher
       nicht umgesetzt. In der vergangenen Woche berief Duque überraschend für
       Ende Januar die Nationale Kommission für Sicherheitsgarantien ein, die ein
       Teil des Friedensabkommens ist.
       
       Ariel Ávila von der Stiftung für Frieden und Versöhnung (Pares) geht
       dennoch davon aus, dass 2019 einen traurigen Höhepunkt markieren wird, weil
       im Oktober Kommunalwahlen sind. „Davor gibt es immer mehr Morde“, sagt
       Ávila. Über 50 Jahre seien im Land gewalttätige Strukturen gewachsen. „Zu
       viele Menschen haben vom Krieg profitiert“, erklärt er. „Sie wollen ihre
       Macht nicht abgeben.“
       
       22 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Wojczenko
       
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