URI: 
       # taz.de -- Empfehlungen zur Berlinale: Wider die gängige Moral
       
       > Edith Carlmars „Ung flukt“ (1959) und Bette Gordons „Variety“ (1983):
       > zwei feministische Filme, die es bei der Berlinale wieder zu entdecken
       > gibt.
       
   IMG Bild: Sandy McLeod als Christine in Bette Gordons „Variety“
       
       Wenn sie nicht einfach nur gut oder scheiße drauf sind, selbstsicher oder
       unsicher, belustigt oder geplagt vom Mutterkomplex – dann sind sie lasziv,
       und doch vom Pin-up-Girl-Sein weit genug entfernt: die sehr junge Liv
       Ullmann in ihrer ersten Hauptrolle als Gerd in Edith Carlmars „Ung flukt“
       („The Wayward Girl“, 1959), einem der Flaggschiffe der „Berlinale
       Classics“, sowie Sandy McLeod aka Christine in „Variety“, einem
       US-Indie-Film von Bette Gordon (1983), der im „Forum“ wieder zu entdecken
       ist.
       
       Zwei Frauen in Regie, zwei weibliche, das Geschehen dominierende
       Protagonistinnen, zwei gegen gängige Moralvorstellungen gerichtete
       Kino-Perlen, in denen nackte Frauenhaut mehr ist als die Urszene der
       Exploitation. Und doch: zwei Filme, wie sie unterschiedlicher nicht sein
       könnten. „Ung flukt“ setzt stilistisch klassisch auf das Schwarz-Weiß der
       europäischen fünfziger Jahre, der andere schwelgt in den dark tunes der
       New York Eighties – Mafiakreise und Pornokinos inklusive.
       
       Gelebte Sexualität als Ausbruchsgeste vs. Sexualfantasien als
       Emanzipationsakt. Anders: Skandinavische Landidylle hier – freilich mit
       Noir-Elementen, die ein gewisser Bendik, seines Zeichens Schurke und
       Verführer, den unschuldigen Aussteigerhütten-Liebes(geh)versuchen von
       Anders und Gerd untermischt –; American Underground mit Nan Goldin als
       Bar-Keeperin und am Ende völlig entdramatisiertemm Motel-Showdown da.
       
       ## Indie-Kino zum Versinken
       
       Bette Gordon (*1955) gilt seit „Variety“ als (hierzulande immer noch
       Geheimtipp-) Ikone eines feministischen Kinos, das auf Begehren statt auf
       Unberührbarkeit setzt. Sie lebt in New York, macht Filme und unterrichtet
       an der Columbia University. Im Gespräch mit Christine Noll Brinckmann –
       selbst emeritierte Filmprofessorin und Avantgardefilmerin der achtziger
       Jahre – erzählt Gordon vom engen Bezug zu Theoretikerinnen wie Laura
       Mulvey.
       
       Dennoch ist „Variety“ kein in Film gegossenes Diskurs-Seminar, sondern
       visuelles und sonores Indie-Kino zum Versinken, Mitsummen, Abtauchen.
       Erzählerisch herrscht Offenheit, die quer liegt zu jenem Sog, den
       Christines (selbst)investigativer Explorations-Trip erzeugt. Sie ist einem
       älteren Mann, dem großen Unbekannten, auf der Spur, kehrt alle
       Stalking-Vektoren um.
       
       Edith Carlmar (1911–2003) wiederum, die seit 1949 Spielfilme drehte, war
       Norwegens erste Filmregisseurin. „Ung flukt“ ist das I-Tüpfelchen einer
       Karriere, die vom selbst in die Hand genommenen Aufstieg in die
       intellektuelle Künstler-Community im Nachkriegsjahrzehnt handelt. Das
       soziale wie emanzipatorische Potenzial von Bildung (aber auch sexueller
       Befreiung) steht denn auch im Zentrum des Films.
       
       Im Doppelgespann mit Gatte Otto gründete Carlmar ein Produktionsstudio; die
       gemeinsamen Drehbücher rücken meist Frauenfiguren mit sozusagen sexuell
       sicherem Auftreten in den Vordergrund. In ihrem letztem Film, „Ung flukt“,
       wird eine solche nun von Liv Ullmann verkörpert: als Gerd agiert sie
       zunächst weitgehend launisch-rebellisch, wechselt allmählich in einen
       jungerwachsenen Aventiure-Modus, und als sie endlich bereit ist, auf die
       inniglichen Beziehungsabsichten des dem bürgerlichen Haus entflohenen
       Anders zu folgen, taucht besagter Bendik auf und zieht sie wieder hinüber
       (und zurück?) in die (auch ihre?) Welt der (triebmotivierten?)
       Gesetzesübertretung.
       
       ## Selbstbestimmte Macherinnen
       
       Schön ist an dieser Stelle vor allem, dass die Gretchenfrage nicht auf den
       Tisch kommt und Carlmar letztlich eine Gesellschaft zeichnet, die
       generations- wie klassenübergreifend versucht, der Falle sozialer
       Determinations- und Segregationsrituale zu entkommen.
       
       Es sind drei Sterne, unter denen die Berlinale dieses Jahr firmiert. Zum
       einen hält die MeToo-Debatte an. Die Retrospektive „Selbstbestimmt.
       Perspektiven von Filmemacherinnen“ und die Charlotte-Rampling-Hommage
       scheinen direkt daraus motiviert. Zweitens dominieren digitale Formate
       nicht nur das gegenwärtige Kino, sondern auch die Vorstellungen von
       Filmgeschichte. Drittens heißt es im letzten Kosslick-Jahr für viele
       Sektionen vielleicht ja auch Abschied nehmen – und Zeichen setzen.
       
       An der Schnittstelle der drei Faktoren (Frau-Sein, Film-Sein,
       Festival-Sein) lesen sich die beiden hier besprochenen Filme nachgerade wie
       Symptome: Die „Berlinale Classics“ und die Deutsche Kinemathek zeigen „Ung
       flukt“ stolz als „digital restaurierte 4K-Weltpremiere“, das Forum kehrt
       mit „Variety“ zurück zu den analogen 35-mm-Originalen aus dem Archiv.
       Welche Kino-Idee richtig und wahr ist, braucht hier nicht elaboriert zu
       werden. Auf der Leinwand wird es allzu offensichtlich.
       
       Dieser Text erscheint im taz Plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
       immer Donnerstags in der Printausgabe der taz.
       
       7 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Wurm
       
       ## TAGS
       
   DIR Liv Ullmann
   DIR Schwerpunkt Berlinale
   DIR Aktionskunst
   DIR Schwerpunkt Berlinale
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Fotografin über US-Opioidkrise: „Wir leben in gefährlichen Zeiten“
       
       Die einst schmerzmittelabhängige Fotografin Nan Goldin nahm den Kampf gegen
       die Pharma-Unternehmerfamilie Sackler auf. Ihr Engagement zeigt Wirkung.
       
   DIR Auftakt 69. Berlinale: Warten auf den Systemsprenger
       
       Die 69. Berlinale steht im Zeichen des Abschieds vom Direktor Dieter
       Kosslick. Außerdem setzt das Programm genderpolitische Akzente.