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       # taz.de -- Woche der Kritik anlässlich der Berlinale: Sicherheitszone Filmfestival
       
       > Fruchtbarer Gedankenaustausch: Seit fünf Jahren setzt die Woche der
       > Kritik mit diskursiven Formaten einen Gegenakzent zur Berlinale.
       
   IMG Bild: Still aus dem Langfilmdebüt „Magic Skin“von Kostas Samaras
       
       Was auf den anderen großen Filmfestivals Cannes, Venedig und auch in
       Locarno schon längst existierte, gibt es auf der Berlinale erst seit fünf
       Jahren: eine Woche der Kritik. Eine Filmreihe, die von Filmkritikern
       kuratiert wird, nicht nur, aber auch im entschiedenen Widerspruch zum
       offiziellen Festival.
       
       Dass die Berliner Woche der Kritik weit mehr sein will als „nur“ eine
       weitere Filmreihe, zeigte sich vom ersten Jahr an und wurde im Lauf der
       Zeit auf unterschiedlichen Plattformen ausgebaut. Seit vier Jahren findet
       zum Auftakt eine Konferenz statt, auf der mit internationalen Gästen
       programmatische Fragen diskutiert werden; zum zweiten Mal erscheint dieses
       Jahr eine begleitende Publikation, in der nicht nur die gezeigten Filme
       vorgestellt werden, sondern der Ton des gesamten Projekts „Woche der
       Kritik“ gesetzt wird.
       
       In diesem Jahr beschreibt Frédéric Jaeger, Initiator und künstlerischer
       Leiter, etwa die Schwierigkeit, Gesprächspartner für die
       Diskussionsveranstaltungen zu finden, die integraler Teil der
       Veranstaltungen sind: Absagen werden oft mit dem Satz „Über Filme will ich
       nur sprechen, wenn ich sie mag“ begründet, was verständlich ist, wenn
       Regisseure über die Arbeiten von Kollegen sprechen sollen, aber doch auch
       zeigt, dass der Begriff Kritik heutzutage meist negativ konnotiert ist.
       
       Fälschlicherweise, wie ein Blick in den Duden verrät: „prüfende Beurteilung
       und deren Äußerung in entsprechenden Worten“ findet man da als Definition,
       womit man der Intention der Woche der Kritik schon näher kommt: Nicht um
       das bloße Sehen von Filmen geht es, nicht um eine weitere Möglichkeit, im
       Wust der Berlinale noch mehr Filme konsumieren zu können, sondern um eine
       Plattform, bei der Filme als Ausgangspunkt für einen möglichst fruchtbaren
       Gedankenaustausch dienen. Und sich dabei auch dezidiert als Gegenposition
       zu den oft von Konventionen und Sicherheiten geprägten offiziellen
       Berlinale- Hauptsektionen verstehen.
       
       ## Warum Filmfestivals wie Flughäfen sind
       
       Treffend auf den Punkt bringt das der griechische Filmkritiker Kostas
       Samaras, der mit seinem Langfilmdebüt „Magic Skin“ zu Gast ist. In der sehr
       lesenswerten zweiten Ausgabe der Publikation Koschke sagt er: „Heutzutage
       ähneln Filmfestivals Flughäfen: Zonen der Sicherheit, in denen jeder nur
       nach Komfort sucht. Das klassische Q&A-Format ist entsetzlich. Ich empfinde
       es als erniedrigend. Es ist die pure Höflichkeit und versucht zu versöhnen,
       was nicht notwendigerweise versöhnt gehört: den Film und das Publikum.“
       
       Den Auftakt zu einer intensiven Woche des Nachdenkens über das Kino machte
       auch in diesem Jahr eine Konferenz, die unter dem programmatischen Titel
       „Intensivstation Kino: Bitte eine Dosis Schlingensief – oder warum mit
       braver Kunst die Welt nicht zu retten ist“ stand und an ebenso
       programmatischem Ort stattfand: der Volksbühne. Dem Ort also, an dem in der
       letzten Spielzeit Chris Dercon mit einem ungewöhnlichen, radikalen Programm
       auch an den konservativen Strukturen der Berliner Kulturlandschaft
       scheiterte.
       
       Ob so ein ikonoklastisches Multitalent wie Schlingensief, der sich frei
       zwischen Kino, Bühne und Fernsehen bewegte, heutzutage noch eine Chance
       bekäme, scheint fraglich; auf seine deutlich leisere, aber nicht weniger
       engagierte Weise versucht es aber zum Beispiel Milo Rau, einer der
       Teilnehmer des Podiums.
       
       ## Schönheit und „deformierte“Körper
       
       Oder der Katalane Albert Serra, der letztes Jahr an der Volksbühne
       inszenierte und am Sonntag bei der Woche der Kritik zu Gast ist. „Roi
       Soleil“ heißt sein Experimentalfilm, der eine Stunde lang den Tod des
       Sonnenkönigs beobachtet. Unter dem Motto „Empathy for Vanity“ firmiert der
       Abend, passend auch für den zweiten gezeigten Film, Aaron Schimbergs
       „Chained for Life“, der hinter die Kulissen eines ungewöhnlichen Filmdrehs
       blickt: Als Schauspieler agieren neben einer auffallend schönen
       Schauspielerin Menschen mit „deformierten“ Körpern – was als Ausgangspunkt
       für Fragen zum Begriff der Schönheit dient. Passenderweise zur
       anschließenden Debatte neben den beiden Regisseuren zu Gast:
       Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der seine Theorien zum Bildakt hier auf
       bewegte Bilder anwenden dürfte.
       
       Film ernst zu nehmen, ihn zu hinterfragen, ihn zu befragen – diesen hehren
       Ansprüchen versucht die Woche der Kritik zu genügen. Leicht macht sie es
       sich und dem Publikum zwar nicht immer, doch es lohnt sich, abseits des
       Festivaltrubels die Hackeschen Höfe aufzusuchen, um sich auf die Filmabende
       und Debatten einzulassen.
       
       7 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Meyns
       
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