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       # taz.de -- Die Härten des Strafvollzugs: Im Winter sind die Zellen voll
       
       > Die Abteilung Ersatzfreiheitsstrafen in Plötzensee gilt als eines der
       > härtesten Gefängnisse Berlins. Manche Insassen sind trotzdem absichtlich
       > hier.
       
   IMG Bild: In der JVA Plötzensee: Blick aus der Zelle
       
       Na, willste was dazulegen?“ Die drei Männer stehen im Kreis vor der
       Justizvollzugsanstalt Plötzensee und zählen Geldscheine: Fünfer, Zehner,
       Zwanziger. 225 Euro haben sie zusammengekratzt, „wir wollen unseren Kumpel
       rausholen“. Der sitzt seit 5 Tagen in einer Einzelzelle der JVA Plötzensee,
       Abteilung Ersatzfreiheitsstrafen. Verurteilt zu 30 Tagessätzen, „wegen
       Schwarzfahren“. Vor dem Eisentor warten die drei, bis sie das Geld
       einzahlen und ihren Kumpel mitnehmen können.
       
       Hinter dem Tor sitzen Beamte vor Überwachungsmonitoren, klingeln muss hier
       niemand. Mit einem Brummen öffnet die Tür, dahinter eine
       Sicherheitsschleuse, die erste von vielen. Die Tür fällt ins Schloss, das
       Gitter geht auf und man ist drin in dem Gefängnis, das Justizexperten als
       einen der härtesten Knäste Berlins bezeichnen. Wegen seiner Insassen.
       
       Es ist nicht so, dass hier die wirklich schweren Jungs sitzen. Wer in Haus
       A der JVA Plötzensee landet, ist nicht einmal zu einer Gefängnisstrafe
       verurteilt. Hier haben schon Menschen eingesessen, die eine Flasche Bier
       geklaut haben. Oder zwei linke Schuhe. Diebstahl, Körperverletzung,
       Sozialversicherungsbetrug, Drogenbesitz, Beleidigung,
       Leistungserschleichung. Das gibt eine Geldstrafe und wer die nicht zahlen
       kann oder will, steht mit einem Fuß in Plötzensee. „Ein Überbleibsel des
       Unterschichtenstrafrechts des 19. Jahrhunderts“, sagt Gefängnisleiter Uwe
       Meyer-Odewald. „Der Geruch ist das Schlimmste“, sagt Justizvollzugsbeamter
       Körne*. „Hier landen die Ärmsten der Armen“, sagt Häftling Seiffert*.
       
       Es braucht eine Weile, bis aus einer Geldstrafe eine Haftstrafe wird. Nicht
       bezahlen können meistens die, die ohnehin am Existenzminimum leben. Und
       selbst die haben in Berlin die Möglichkeit, die Strafe in Raten oder
       gemeinnützigen Arbeitsstunden abzuleisten. So trifft die
       Ersatzfreiheitsstrafe vor allem die, die bereits „ganz unten“ sind, längst
       keine Post mehr aufmachen oder nicht einmal eine Adresse haben. Mehr als
       die Hälfte der Insassen der Abteilung Ersatzfreiheitsstrafen sind
       medizinisch oder psychiatrisch behandlungsbedürftig, 60 bis 70 Prozent
       haben langjährige Drogenerfahrung, viele sind obdachlos.
       
       ## Eine Zumutung für die „richtigen“ Häftlinge
       
       Die Ersatzfreiheitsstrafer, wie sie hier genannt werden, haben in
       Plötzensee eine eigene Abteilung, weil sie für die „richtigen“ Häftlinge in
       den anderen Häusern eine Zumutung sind. Für die, die sich in ihren Zellen
       wohnlich einrichten, die ihre Ruhe wollen. Es gibt Tage, da riecht es in
       Haus A stechend nach Fußpilz, offenen Wunden, nach Menschen, die wochenlang
       nicht geduscht haben. Ersatzfreiheitsstrafer gelten als unberechenbar – im
       letzten Jahr habe einer den Kotbeutel seines künstlichen Darmausgangs auf
       dem Kopf einer Krankenschwester ausgeleert, erzählen Bedienstete. Nicht
       wenige sind aus allen sozialen Zusammenhängen gefallen, leben mit Schulden,
       unter ständigem Druck.
       
       „Viele gehören nicht hierher, sondern in psychische Behandlung“, sagt der
       Justizvollzugsbeamte Körne, ein streng wirkender Mann, vielleicht macht das
       auch die Uniform. Körne war zuvor Krankenpfleger in der psychiatrischen
       Abteilung des Gefängniskrankenhauses. Für die Ersatzfreiheitsstrafer gebe
       es vor der Haft keine Prüfung, ob sie überhaupt haftfähig sind. Immer
       wieder komme es in Haus A zu Selbstverletzungen, erzählt Körne. Im Dezember
       hat sich ein psychisch auffälliger Häftling an seinem zweiten Tag in der
       Zelle getötet.
       
       So ist es kein Zufall, dass gerade Haus A, ein 150 Jahre alter Klinkerbau,
       für die Ersatzfreiheitsstrafen reserviert ist. Es liegt dem
       Gefängniskrankenhaus am nächsten. Es gibt hier wie in allen geschlossenen
       Gefängnissen Gitter vor den Fenstern, Sicherheitsschleusen, uniformierte
       Beamte. Aber keine hohe Mauer umgibt das Haus, als gemeingefährlich gelten
       die Insassen hier nicht. Und das Aufnahmegespräch führt kein Uniformierter,
       sondern eine Sozialarbeiterin mit offenen langen Haaren, in Pulli und
       Jeans.
       
       Frau Heise* arbeitet seit vielen Jahren im Vollzug. „Ich habe schon alles
       gesehen.“ Man muss die Gefangenen auch mögen können, sagen Bedienstete, und
       wie gut Frau Heise das könne. Es ist warm, sehr warm in ihrem Büro. „Das
       bringt die Menschen erst einmal zur Ruhe.“ Menschen, die unter Brücken, in
       U-Bahnhöfen schlafen. Die die Drogen und der Kampf um die tägliche Dosis
       ausgemergelt hat, die ständig frieren, immer auf der Hut sein müssen.
       
       ## Besser als eine Obdachlosenunterkunft?
       
       Heise klärt als Erstes, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, die
       Geldstrafe zu bezahlen. Manchmal fahren Beamte noch einmal mit zum nächsten
       Geldautomaten. Ansonsten landen die Häftlinge in einer vergitterten Zelle
       des Zugangsbereichs. Eine Woche bleiben alle Häftlinge hier, werden
       untersucht nach ansteckenden Krankheiten. Offene Tuberkulose ist nicht
       selten, Krätze ebenso wenig. Süchtige müssen erst einmal den Entzug hinter
       sich bringen. Danach geht es weiter in den geschlossenen oder offenen
       Vollzug. Knapp 200 Plätze gibt es dafür aktuell.
       
       3.000 Menschen durchlaufen pro Jahr die Abteilung Ersatzfreiheitsstrafen,
       im Durchschnitt sitzen sie 40 Tage. Die meisten kommen im Winter, dann sind
       die Zellen voll. 10 Prozent stellen sich selbst. Einzelunterbringung, die
       Habseligkeiten sicher verwahrt, Arbeit, drei Mahlzeiten am Tag – das ist
       mehr als die Straße, mehr, als viele Obdachlosenunterkünfte zu bieten
       haben. Die anderen werden von der Polizei gebracht, Vollstreckung eines
       Haftbefehls, von dem sie oft gar nichts wussten. Auch das sind im Winter
       mehr, weil die Kälte die Obdachlosen sicht- und greifbarer macht.
       
       Bei Seiffert kam die Polizei an einem trüben Novembertag. Mit dem
       Haftbefehl standen sie vor seiner Kreuzberger Wohnung. Die Post hatte er da
       schon lange nicht mehr aufgemacht. „Ich krieg das alles nicht so gut hin da
       draußen.“ Kiffen, ein paar Gramm Koks in der Woche, dazu noch Spielsucht.
       Seiffert ist 39, er trägt die dunkelblaue Häftlingskleidung, kurze
       Stoppelhaare, die schon grau werden. Draußen hat er Hartz IV bekommen, auf
       dem Wochenmarkt Obst und Gemüse verkauft, ein bisschen was dazuverdient.
       Man kann sich ihn dort gut vorstellen und auch, dass sein Gesicht zum
       Fröhlichsein taugt. Im Gefängnis schaut er ernst.
       
       Seiffert ist chronischer Schwarzfahrer, in vier Verfahren verurteilt zu
       insgesamt 430 Tagessätzen. 6.450 Euro Geldstrafe, die er nicht bezahlt hat.
       Bis Februar 2020 wird er auf jeden Fall einsitzen. Mehr als ein Jahr Knast
       für Fahren ohne Ticket. Ein Drittel aller Ersatzfreiheitsstrafer sind
       deswegen hier.
       
       „Die Schwarzfahrer gehören hier eigentlich nicht her“, sagt Meyer-Odewald,
       Leiter der JVA Plötzensee. Schwarzfahren sei ein besonders deutliches
       Beispiel, wie der Staat Ressourcen verschleudere. „Wenn die Bevölkerung
       wüsste, was das hier kostet!“ 150 Euro durchschnittlich pro Hafttag. Bei
       einer nicht bezahlten Geldstrafe von 200 Euro – 40 Tagessätze à 5 Euro,
       macht das rund 6.000 Euro Gefängniskosten. Bei Menschen, die gefährlich
       sind, verbiete es sich, mit Kosten zu argumentieren, sagt der Direktor.
       „Aber bei Bagatelldelikten stimmt das Verhältnis nicht mehr.“ Der
       Gefängnisleiter findet noch drastischere Worte: „Der Justizvollzug ist
       nicht der verlängerte Arm der öffentlichen Beförderungsunternehmen.“ Die
       Beförderungserschleichung müsse raus aus dem Strafgesetzbuch.
       
       Schwarzfahrer wie Seiffert säßen dann nicht hier. Doch Seiffert wusste,
       dass die Polizei irgendwann kommt. Er wollte es auch so, sagt er. Raus aus
       dem Teufelskreis da draußen, mit den Drogenkumpels. Schon oft habe er
       versucht, clean zu bleiben, hat 10 Monate Therapie hinter sich. Im Knast
       hat Seiffert einen geregelten Tagesablauf und arbeitet, wie fast alle.
       Jeden Morgen 6:30 Uhr steht er im Zugangsbereich, sortiert Habseligkeiten,
       schrubbt Klos, wäscht Geschirr. Er könnte seine Strafe so auch abarbeiten.
       „Day by Day“: Ein Tag arbeiten heißt ein Tag Strafe weniger. Aber Seiffert
       will die Zeit zur Besinnung nutzen, etwas Geld beiseite legen. Eine
       Sozialarbeiterin der JVA hilft ihm, seine Wohnung zu behalten. Ab nächstem
       Jahr gibt es außerdem eine halbe Stelle für psychologische Betreuung in
       Haus A. Für Junkies und Obdachlose, sagt Seiffert, sei das hier das Beste,
       was ihnen passieren kann.
       
       Und so ist dieses Gefängnis auch ein letztes Auffangbecken für Menschen,
       die draußen nicht mehr erreicht werden, für die diese Stadt nichts zu
       bieten hat. Meyer-Odewald beschreibt es so: „Im Grunde ist das hier eine
       Art Sucht- oder Obdachlosenunterkunft. Nur wegen der
       Sicherheitsvorkehrungen viel teurer.“ Der Justizvollzug sei dafür
       eigentlich nicht da. Aber wenn es nun mal so ist, sagt der Gefängnisleiter,
       dann wäre mehr Unterstützung durch die Sozialbehörden sinnvoll.
       
       Viele Ersatzfreiheitsstrafer landen immer wieder in Plötzensee, manche
       klauen mit Absicht, um im Winter hier unterzuschlüpfen. „Für die ist das
       eine lebensverlängernde Maßnahme“, sagt Justizvollzugsbeamter Körne. Einmal
       aufpäppeln und dann wieder ein Jahr da draußen überleben. Körne, der
       strenge Beamte, er spricht auch von Würde und Anerkennung. Von Menschen,
       die wieder arbeiten und eigenes Geld haben. Von Menschen, die auf der
       Straße schon fast vergessen haben, dass sie Müller, Meyer oder Grabowski
       heißen. „Hier werden sie wieder beim Namen genannt.“
       
       * Namen geändert
       
       11 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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