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       # taz.de -- Altdorfers „Landschaft mit Satyrfamilie“: Sehnsucht nach dem Wilden Mann
       
       > Albrecht Altdorfer war der erste Landschaftsmaler in Europa. Seine
       > „Landschaft mit Satyrfamilie“ erzählt von der Zuneigung zum
       > Unzivilisierten.
       
   IMG Bild: Der Satyr mit seiner Gemahlin und ihrem Kind fühlt sich von Eindringlingen gestört (Aussschnitt)
       
       Drei der frühesten Bilder Albrecht Altdorfers aus dem Jahr 1507 hängen
       nebeneinander in der Berliner Gemäldegalerie. Sie teilen den Raum mit
       Gemälden zweier bekannter Zeitgenossen, die ebenfalls nördlich der Alpen
       tätig waren: Albrecht Dürer und Lucas Cranach der Ältere. Insgesamt sind
       sieben Bilder Altdorfers in diesem Raum zu sehen. Allesamt sind sie relativ
       klein, offenkundig für Privaträume gemalt worden.
       
       Das tragbare Tafelbild, ein entfernter Verwandter der Ikone, wurde im 16.
       Jahrhundert zur populärsten Form der Devotionalie. Für die Maler war es
       aber auch ein nützliches Format, um ein Portfolio zu begründen, und eine
       Bühne für malerische Experimente. Kleiner als ein DIN-A4-Papier ist die
       rätselhafte „Landschaft mit Satyrfamilie“, das kleinste der Bilder
       Altdorfers hier.
       
       Unter einem Dickicht aus Bäumen und Sträuchern am Rande eines Hangs sucht
       eine Familie Schutz: ein behaarter und behornter Satyr und seine nackte
       menschliche Gemahlin mit ihrem Kind. Der Satyr greift mit finstrem Blick
       nach einem Stock, als ob er sich auf einen Kampf vorbereite, während seine
       Begleiterin ihn zurückhält.
       
       Ihre Gesten werden durch diejenigen eines Paars gespiegelt, deren
       Anwesenheit auf einer Lichtung im Bildhintergrund schwer zu erfassen ist.
       Ein nackter Mann mit einem Stock, der eine Frau in einem roten Kleid
       begleitet, die gerade mit weit ausholenden Schritten in den Wald tritt.
       Ihre Anwesenheit stellt sich für die „Familie“ des Satyr offensichtlich als
       Eindringen dar.
       
       ## Ein merkwürdiges Bild
       
       Altdorfer, dessen Grabstein ihn als Baumeister bezeichnet, starb als
       wohlhabender Mann. Er war eine bekannte politische Figur in Regensburg und
       besaß drei Häuser. Noch heute stehen Häuser, die er baute. Welche Rolle
       seine exzentrischen, intimen Gemälde am Anfang seiner Karriere als Maler
       spielten, ist unbekannt.
       
       Auch die Geschichte, die „Landschaft mit Satyrfamilie“ erzählt, ist unklar.
       Sein grober Aufbau lässt uns das Bild als solches merkwürdig erscheinen.
       Zwei Drittel der Bildfläche nimmt die Landschaft ein. Die dunklen, grün und
       braun gehaltenen Blätter und Grashalme werden durch weiße Linien
       hervorgehoben, dazwischen grobe Schattierungen. Zu sehen sind ein
       sandbrauner Fels, Baumstümpfe und ein verschmierter, düsterer Berg in der
       Ferne.
       
       ## Expressiv oder geschmacklos?
       
       Der aufragende Wald und die ornamentale Flora können zur Vermutung
       verleiten, die im Bild erzählte Geschichte der Familie sei bloße
       „Staffage“, eine geschmacklose Erfindung, noch dazu schlecht gemalt, wie
       der Kunsthistoriker G. F. Waagen im 19. Jahrhundert schrieb. Man kann das
       Bild also als Beispiel dafür betrachten, wie früh Altdorfer, der angesehene
       Maler, Landschaftsmalerei als eigenständiges Genre kultivierte, indem er
       den Wald zum eigentlichen Gegenstand des Bilds machte.
       
       Wenn sich die Maler des Nordens nach Jan van Eyck dem Unternehmen
       verschrieben, nach dem Vorbild Dürers die Natur widerzuspiegeln, zeigt
       dieses Bild Altdorfers doch eine andere Haltung der Natur gegenüber. Die
       Bäume, Blätter, Felsen, die sich über seinen Rahmen hinaus erstrecken
       könnten und sich fast unorganisch zu wiederholen scheinen, sind in einer
       expressiven Geste gemalt. Sie vermitteln den Eindruck, mehr als das Sujet
       des Bilds im Zentrum zu stehen, der Vorstellung des Malers zu entspringen
       und subjektiver Projektion einen Boden zu bereiten.
       
       ## Der Markt will Landschaften
       
       Das plötzliche Aufkommen von Landschaftsmalerei und -radierungen in der
       Donauregion, die zuerst an den Rändern von Gebetsbüchern, in illustrierten
       Manuskripten und auf Miniaturen zu sehen waren, scheint sich historischer
       Analyse zu entziehen. Es vollzog sich mehr oder weniger parallel zur
       italienischen Renaissance (Leonardo da Vinci lebte noch zwölf Jahre,
       nachdem Altdorfer sein Bild signiert und datiert hatte), zu deren
       Errungenschaften die Wiederentdeckung der wissenschaftlichen Perspektive
       und der klassischen Architektur sowie die Erweiterung des anatomischen
       Wissen über den menschlichen Körper gehören.
       
       Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich vermutete, die Maler nördlich der Alpen
       malten nun ebenfalls Landschaften, weil sie sich im Süden gut verkaufen
       ließen. Demnach sei die Landschaftsmalerei ein Geschenk des
       Renaissance-Südens an den gotischen Norden gewesen. Um sein Argument zu
       illustrieren, wählte Gombrich eine Radierung Altdorfers, der in der Tat der
       Erste in der europäischen Kunst war, der autonome Landschaftsbilder malte.
       
       ## Der Wald im Bild
       
       Altdorfers Landschaftsbilder zeigen keine menschlichen oder tierischen
       Figuren. Sie erzählen keine Geschichten und zeigen eine Unvollständigkeit
       und Stille, dreihundert Jahre vor den Romantikern, die Landschaft zum
       Paradigma moderner Kunstwerke machten. Schiller etwa nahm an, dass
       Landschaftsmalerei die unbelebte Natur in ein Symbol der menschlichen Natur
       verwandelte. Altdorfer war wahrscheinlich der erste, der sich eindeutig von
       der bis dahin zentralen Thematik des Bildes löste und das Formale über die
       semantische Vollständigkeit stellte.
       
       Altdorfer scheint den Wald mit seinen dicken Farbschichten buchstäblich ins
       Bild zu bringen. Sein dichter und eher geschlossener Raum überschreitet die
       Erfahrung, im Wald gefangen zu sein. Der Wald ist hier bereits etwas
       Größeres: Schon zu Zeiten Altdorfers waren die Urwälder von Straßen,
       Feldern und Straßen durchtrennt. Der deutsche Wald ist mehr eine Idee als
       ein Ort. Er dräut dunkel im Zentrum dessen, was man im Lauf der Zeit die
       deutsche Fantasie nennen kann.
       
       ## Eine Quelle teutonischer Stärke
       
       Der Wald wurde zum Emblem für die Humanisten dieser Zeit, die ihn ins
       Zentrum eines Landes stellten, das ihnen als formloses Terrain mit harschem
       Klima erschien, trostlos anzuschauen, außer es sei das Land der Geburt, wie
       Conrad Celtis schrieb. Den Humanisten gelang es, den Wald von einem Fluch
       zum Stolz des Landes, in eine Quelle teutonischer Stärke zu verwandeln. Der
       Wald wurde zu einem Tempel unter freiem Himmel, ein Zuhause für die Musen,
       er beherbergte aber auch immer Angstauslösendes und Barbarisches, den Satyr
       und den Wilden Mann.
       
       Die fabelhafte Gestalt des Satyr erscheint in der frühen deutschen Kunst
       eher selten. In Altdorfers Bild verschmilzt die Mythologie der Satyrn mit
       dem nordeuropäischen Topos des behaarten Wilden Manns mit dem Stock. Der
       Wilde Mann ist eines der Gespenster der deutschen Volkskultur, er
       verkörpert Träume und Ängste. Er steht aber auch für die unkontrollierbare
       Kraft des Freud’schen Es im Kontrast zur Zivilisation. In einem Stich von
       Dürer aus dem Jahr 1505 bläst der Satyr vor seiner (vielleicht entführten?)
       Frau und deren Kind in ein Horn, das die Verlängerung seines erigierten
       Penis ist.
       
       ## Die Klag der wilden Holzleut
       
       Der Wilde Mann, diese bestialische Kreatur, die eine rohe Sexualität und
       Gewalttätigkeit ausstrahlt, ist durch und durch antisozial. Ein dekorativer
       Wandteppich, der Szenen aus dem Leben der Wilden Männer zeigt, war zu
       Lebzeiten Altdorfers vermutlich im Regensburger Rathaus zu sehen. Im
       Gegensatz zu den überlieferten Darstellungen bestimmt in Altdorfers Bild
       aber die Wildnis ihre Bewohner.
       
       Im 16. Jahrhundert machte der Nürnberger Satiriker Hans Sachs den Wilden
       Mann zu seinem Sprachrohr gegen die Verfehlungen der Gesellschaft. Seine
       „Klag der wilden Holzleut über die ungetrewe Welt“ war verziert mit einem
       Holzschnitt von Hans Schäuffelein, der dafür Dürers „Adam und Eva“
       adaptierte. Bei Sachs hieß es: „Seit nun die welt ist so vertrogn, / mit
       untreu, list ganz überzogn, / so seien wir gangen daraus, / halten im
       wilden walde haus / mit unsern unerzognen kinden, / das uns die falsch welt
       nit mög finden, / da wir der wilden frücht uns nern, / von den würzlein der
       erden zern / und trinken einen lautern brunnen.“
       
       ## Das Volk ist fromm, die Stadt ist böse
       
       Das freie Leben im Wald wird hier nicht nur als vollkommene Unschuld dem
       korrupten Stadtleben gegenübergestellt. Bei Sachs wird es zum Modell einer
       wahren, antiinstitutionellen, völkischen Version der Frömmigkeit und
       christlicher Demut.
       
       Dreihundert Jahre später spielte derselbe Hans Sachs eine prominente Rolle
       in Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“. Dort hat Wagner
       dessen Volkslieder als Vehikel für seine eigene Idee sozialer Regeneration
       durch Kunst und als Vorbild für deutsche Ursprünglichkeit benutzt. „Die
       Meistersinger“ sind Wagners berüchtigste Oper, auch weil sie in der
       Nazi-Propaganda eine wichtige Rolle spielte.
       
       ## Wo ist die deutsche Antike?
       
       Diese Affinität zum Unzivilisierten war Teil der Suche nach einer deutschen
       Vergangenheit in einer Zeit einer kulturellen Selbstvergewisserung der
       Deutschen, für die Humanisten wie Conrad Celtis standen. Er hatte
       Verbindungen nach Regensburg, und es ist gut möglich, dass Altdorfer seine
       Schriften kannte.
       
       Die Suche nach einer deutschen Antike sollte an die ruhmreiche klassische
       Antike anknüpfen, mit denen sich die Humanisten konfrontiert sahen. Als
       Zeichen eines populären Patriotismus entstand aus dieser Konkurrenz mit der
       Zeit eine gewisse Feindseligkeit gegenüber Italien. Hinzu kam eine
       Idealisierung der „Wilden“, die der „Zivilisation“ unbekannt waren, als die
       ersten Teile der Neuen Welt „entdeckt“ wurden.
       
       Spuren dieser Sehnsucht nach einer subversiven, reinen Wildnis sind (wenn
       auch kastriert, modifiziert oder rekonzeptualisiert) in der deutschen
       Malerei bis ins 20. Jahrhundert und vielleicht bis heute zu finden. Sie
       zeigt sich auch in der Idealisierung der „Wilden Maler“. Ohne das, was in
       „Landschaft mit Satyrfamilie“ beginnt, ist diese Sehnsucht nicht zu denken.
       
       17 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
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