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       # taz.de -- Berlinale „Der goldene Handschuh“: Kaputte unter Kaputten
       
       > Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag „Der goldene Handschuh“ ist ein Horrorfilm
       > nach realen Ereignissen. Und ein ambivalentes Kinoerlebnis.
       
   IMG Bild: Cheers
       
       Wenn man einige Zeit seines Lebens in Hamburg verbracht hat, erzeugt der
       breite Akzent des Hamburgischen ziemlich zuverlässig eine anheimelnde
       Wirkung. Von diesen sprachlichen Vorzügen seiner Mithanseaten macht der
       Hamburger Regisseur Fatih Akin in seinen Filmen gern Gebrauch. Auch in „Der
       goldene Handschuh“ nach dem gleichnamigen [1][Roman von Heinz Strunk] hört
       man reichlich gedehnte Vokale. Besonders schön beim Stammpersonal der
       Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ auf St. Pauli, das man zwei Stunden lang
       ausführlich vorgestellt bekommt.
       
       Einer, der einen anderen Zungenschlag hat, ist die Hauptfigur. Fritz
       „Fiete“ Honka, der dem realen Serienmörder Honka nachempfunden ist, setzt
       sich nicht nur durch sein wenig ansprechendes Äußeres mit knubbeliger Nase,
       schielendem Auge und kaputten Zähnen von den meisten anderen Gästen des
       Etablissements ab. Er sächselt auch hörbar. Der in Remscheid geborene
       Schauspieler Jonas Dassler gibt diesen Aspekt seines Parts ziemlich
       glaubhaft. Für das Äußere sorgt die Maske.
       
       Das noch größere schauspielerische Verdienst Dasslers ist jedoch, die
       ungehemmte, unkontrollierte Triebhaftigkeit Honkas, mit der dieser auf
       seine weiblichen Opfer losging, in ungelenk-heftige Körpersprache zu
       übersetzen. Kein leichter Part, denn trotz Fatih Akins Bemühen, diesem
       sadistischen Frauenmörder menschliche Züge zu verleihen, bleibt von diesem
       Honka vor allem in Erinnerung, wie er seine Opfer in die Falle lockt, mit
       Alkohol möglichst willig macht und dann, selbst kräftig mit Kornbrand
       abgefüllt, über diese herfällt, sie brutal ermordet und hinterher die
       Leichenteile bei sich zu Hause versteckt.
       
       Einen Genrefilm wollte Akin machen, einen, der ihn, wie er in der
       Pressekonferenz sagte, an seine Anfänge zurückführte. Denn sein erstes
       Filmerlebnis hatte er mit acht Jahren, mit George A. Romeros
       Horrorklassiker „Zombie“. Die kindliche Einsicht beim Lesen des Abspanns,
       dass das etwas Gespieltes und nicht die Realität ist, habe in ihm das
       Interesse am Kino geweckt.
       
       ## „Es geht ein Zug nach nirgendwo“
       
       Bei „Der goldene Handschuh“ gewinnt man allerdings den Eindruck, Akin
       wollte alles so realistisch wie möglich haben. Die heruntergekommene
       Furniereinrichtung von Honkas mit Sexfotos vollgehängter Wohnung, die
       vernachlässigten Altbaufassaden Ottensens, die Flaschen „Kaiser Pils“ oder
       „Oldesloer Korn“, all das wirkt so echt wie die Schlager des Soundtracks,
       darunter Adamos „Es geht eine Träne auf Reisen“, Freddy Quinns „Junge, komm
       bald wieder“ oder Christian Anders’ „Es geht ein Zug nach nirgendwo“.
       Allein die unangenehm-hintergründig brummende originale Filmmusik stammt
       von FM Einheit (Einstürzende Neubauten).
       
       Höchst realistisch sind zudem die vielen blutigen Szenen. Explizite
       Exzesse, wie sie in Filmen wie John McNaughtons „Henry: Portrait of a
       Serial Killer“ (1986) zum Teil recht drastisch zu sehen sind, werden bei
       Akin sehr knapp umschifft. Zum Teil genügt aber auch die Tonspur, um das
       Geschehen mehr als plastisch werden zu lassen. Ob diese audiovisuelle
       Heftigkeit im Wettbewerb noch überboten wird, mag zweifelhaft erscheinen.
       
       Vielleicht ist dies die größte Krux von „Der goldene Handschuh“. Denn ein
       Horrorfilm nach realen Ereignissen setzt sich leicht dem Vorwurf aus, sein
       Sensationsthema auszuschlachten. Andererseits geht es Akin klar um
       Soziales. Zu sehen bekommt man in erster Linie Kaputte unter Kaputten. Ob
       es sich um Kriegsversehrte oder Opfer des Nationalsozialismus handelt, das
       Milieu, das Akin zeigt, ist eines, in dem keine Helden vorgesehen sind.
       Höchstens ein paar heitere Trinkfreunde wie Dornkaat-Max, von Hark Bohm
       dankbar als Angebot für comic relief genutzt.
       
       Dem entgegen stehen die Opfer Honkas, von denen Gerda Voss eines der
       wenigen ist, das ihm entkommen kann. Sie ist, wie seine anderen Frauen
       auch, eine vom Leben Gezeichnete, die in ihrem Kummer die wenig
       feinfühligen Avancen Honkas als so etwas wie Ersatz für echte Zuneigung in
       Kauf nimmt. Margarethe Tiesel verleiht ihrer Gerda eine verletzte
       Gleichmütigkeit, die in ihrer Hilflosigkeit erschreckt. Was die Ambivalenz
       des Films am Ende verstärkt. In seiner Detailverliebtheit überzeugt und
       verstört er gleichermaßen.
       
       10 Feb 2019
       
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