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       # taz.de -- Jubiläum der Filmreihe „Irrsinnig menschlich“: „Vielen anderen geht es wie mir“
       
       > Sabine Ternes vom Verein „exPEERienced“ im Interview über die Filmreihe
       > „Irrsinnig menschlich“, die sich mit psychischen Krankheiten befasst.
       
   IMG Bild: Protagonist Popey aus dem Film „Neben der Spur – Von der Depression aus der Bahn geworfen“ von Andrea Rothenburg
       
       taz: Frau Ternes, was ist das Irrsinnige an Ihnen? 
       
       Sabine Ternes: Ich bin jetzt 58 Jahre alt, und über die Zeit hat sich das
       Leben immer schwerer angefühlt. Das Irrsinnige an mir ist, dass ich
       sozusagen am Leben verzweifelt bin. Ich wusste nicht mehr, wie ich das
       alles auf die Reihe kriege, mein eigenes Leben mit all den Anforderungen,
       die an mich gestellt werden.
       
       Aber ist das nicht etwas, mit dem viele Menschen zu kämpfen haben? 
       
       Mir war dies nicht bewusst. Wenn ich meinen Freunden davon erzählt habe,
       kam nur ein Schweigen. Ich dachte immer, warum bekommt jeder sein Leben auf
       die Reihe, hat Zeit für Sport, Freunde, Arbeit, aber ich anscheinend nicht?
       Ich habe mich immer anders gefühlt. Bis meine Tochter mich auf meine
       Traurigkeit angesprochen hat. Als ich dann in die Klinik kam, fühlte ich
       mich, als wäre ich zu Hause, weil ich so sein konnte, wie ich bin. Ich
       brauchte es niemandem zu erklären, weil es allen ähnlich gegangen ist. Und
       das war für mich dieser Aha-Moment, dass es vielen anderen genauso geht.
       
       Ist es Ihnen deswegen wichtig, in einem Verein aktiv zu sein, der zu
       Betroffenen unter anderem sagt: Ihr seid nicht allein? 
       
       Genau. Ich finde es ganz wichtig, dass diese betroffenen Menschen eine
       Plattform haben. Oft ist es mir zu seicht heruntergebrochen zu sagen,
       Achtsamkeit ist das, was helfen soll. Im Grunde geht es hierbei um die
       Selbstfürsorge. Wenn es tiefer greift, das heißt, eine tiefer sitzende
       Depression zum Beispiel, kann man das nicht durch Achtsamkeit heilen, dann
       braucht man eine Therapie oder zuerst einen Ansprechpartner. Und wir können
       erste Ansprechpartner sein, können begleiten und vermitteln.
       
       Ist das Konsens im Verein? 
       
       Auch, aber nicht nur. Wir im Verein exPEERienced sind alles Menschen, die
       selbst eine psychische oder seelische Beeinträchtigung erfahren haben und
       dieses Wissen weitergeben möchten. Das ist unser Konzept: Wir sind
       ExpertInnen aus Erfahrung. Aber es ist uns auch wichtig, dass die Arbeit
       der GenesungsbegleiterInnen mehr öffentlich und bekannter werden.
       
       Was ist ein Genesungsbegleiter? 
       
       Ein/e GenesungsbegleiterIn ist quasi das, was wir machen. Sie können durch
       eigene Erfahrung den Menschen helfen, die noch mitten drinstecken.
       GenesungsbegleiterInnen werden seit einigen Jahren verstärkt in Kliniken
       sowie anderen Einrichtungen eingesetzt. Damit unterstützt man die
       professionelle Seite und kann als GenesungsbegleiterIn neue Denkanstöße
       geben. Das ist auch das besondere an der Filmreihe „Irrsinnig menschlich“,
       die wir seit 2017 unterstützen. Am Ende eines Films gibt es immer eine
       Podiumsdiskussion mit Angehörigen, ExpertInnen aus Erfahrung sowie
       Fachleuten.
       
       Apropos Filmreihe: Was sind das für Produktionen, die bei der Filmreihe
       „Irrsinnig menschlich“ gezeigt werden?d
       
       Die Filme zeigen verschiedene Krankheitsbilder. Im Programm des
       diesjährigen Jubiläumsjahres werden zum Beispiel Produktionen über
       Depression, Spielsucht und Zwangsunterbringung gezeigt. Dieses Jahr beginnt
       die Filmreihe mit der Premiere der Dokumentation „Neben der Spur – Von der
       Depression aus der Bahn geworfen“ (siehe Bild oben) von Andrea Rothenburg,
       danach gibt es ein Gespräch mit dem Publikum. Es sind Filme, die die
       BesucherInnen mit einem Thema konfrontieren, das sie zum Nachdenken anregt.
       
       … und die Entstigmatisierung beginnt? 
       
       Genau. Eigentlich ist es das, wofür die Filmreihe steht und wir uns auch
       als Verein einsetzen: eine Art Prävention und Sensibilisierung von und für
       psychische und seelische Krankheiten. Oft wissen Betroffene nicht, wo sie
       hingehen sollen. Als ich damals selbst nach einer Therapie suchte, war ich
       völlig hilflos. Heute ist das ganz anders, da immer mehr Menschen auf
       therapeutische Hilfe angewiesen sind. Deswegen ist es umso wichtiger, zum
       Beispiel Kollegen oder Angehörige zu sensibilisieren, damit die Betroffenen
       nicht mehr in Schubladen gesteckt werden. Und durch die Diskussion nach der
       Vorstellung bleibt es nicht nur bei einem „coolen Film“, sondern das Thema
       wird auf das reale Leben übertragen, wodurch Stigmatisierungen zu bröckeln
       beginnen.
       
       Was bedeutet Stigmatisierung für Sie? 
       
       Dass ich ausgegrenzt werde. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand
       versteht. Bei uns im Verein und auch durch die Filmreihe fühle ich mich
       verstanden und merke, dass es sehr vielen Menschen so geht wie mir selbst.
       
       12 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Schroth
       
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