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       # taz.de -- US-Nuklearforscher über Sicherheitslage: „Die nukleare Anarchie ist realistisch“
       
       > Die Sicherheitslage ist angespannt wie nie, schuld sind vor allem die
       > USA, erklärt Peter Kuznick vom US-Institut für nukleare Studien.
       
   IMG Bild: Schafft es locker bis Berlin: Die Iskander-K Kurzstreckenrakete wird nicht vom INF-Vertrag erfasst – Test in Russland, 2017
       
       taz: Warum will Donald Trump den [1][INF-Vertrag über nukleare
       Mittelstreckenraketen kündigen]?
       
       Peter Kuznick: Wir haben eine Atmosphäre des Misstrauens gegen Russland.
       Das gibt ihm die Rückendeckung von beiden Parteien. Die Republikaner
       betrachten Rüstungskontrolle als Einschränkungen der amerikanischen
       Souveränität. Und selbst Demokraten, die den Rückzug aus dem INF-Abkommen
       eigentlich kritisieren, sind gegenwärtig so russophob, dass die Mehrheit
       der amerikanischen Bevölkerung es als legitim betrachtet, dass Trump das
       tut. Für Trump erfüllt der Rückzug damit mehrere Zwecke: Er lenkt von den
       anderen Krisen ab und er erlaubt ihm, einen Schachzug zu machen, ohne eine
       Kontroverse auszulösen.
       
       Angesichts der russischen Einmischungen im US-Wahlkampf ist die Schärfe der
       Demokraten nachvollziehbar. 
       
       Es gibt Demokraten, die in der russischen Einmischung den Grund sehen,
       weshalb Hillary Clinton die Wahlen verloren hat. Aber erstens haben sich
       die USA seit mehr als 70 Jahren regelmäßig in Wahlen in anderen Nationen
       eingemischt. Und zweitens ist das Ausmaß der russischen Einmischung völlig
       übertrieben worden. Clinton war eine schlechte Kandidatin, die eine
       schlechte Kampagne gemacht hat und außenpolitisch aggressiver war als
       Donald Trump.
       
       Die erste Reaktion aus Moskau auf Trumps Ankündigung war erleichtert.
       Motto: Jetzt können wir [2][neue optische Waffen und neue
       Langstreckenraketen entwickeln]. Das klingt, als ob Trump Putin einen
       Gefallen getan hätte. 
       
       Putin redet seit mehr als 15 Jahren davon, dass der INF-Vertrag obsolet
       sei, und er kritisiert vieles, das Gorbatschow getan hat. Der INF-Vertrag
       von 1987 bevorteilte die USA. Er verbot die Stationierung von
       Mittelstreckenraketen in Europa, aber er unternahm nichts gegen die luft-
       und seegestützten Raketen, bei denen die USA überlegen waren.
       
       Wieso geben die USA jetzt einen Vertrag auf, der sie begünstigt hat? 
       
       Weil der „unipolare Moment“ – oder ab 2002 die „unipolare Ära“ – zu Ende
       ist. Nachdem die USA in Afghanistan einmarschiert waren, betrachteten Dick
       Cheney (Vizepräsident unter George W. Bush; d. Red.) und Paul Wolfowitz
       (sein Berater; d. Red.) die USA als Welt-Hegemon. Sie fühlten sich stark.
       Aber dann marschierten die USA im Irak ein, und die Hölle ging los.
       
       Wie beschreiben Sie den jetzigen Moment? 
       
       Die Welt ist komplizierter geworden. China mag heute nur 280 Atomwaffen
       haben – nicht viel im Vergleich zu den jeweils mehr als 6.000 in den USA
       und in Russland. Aber China wird stärker. Es hat die größte Marine der
       Welt, hat die Kontrolle über das Südchinesische Meer durchgesetzt und über
       große Teile vom Ostchinesischen Meer. Und 95 Prozent der chinesischen
       Raketen fallen unter den Bereich, der im INF-Vertrag verboten ist. Wir sind
       an einem multipolaren Moment angelangt, in dem die USA militärisch von
       Russland sowie wirtschaftlich und in gewisser Hinsicht auch militärisch von
       China herausgefordert werden.
       
       Hat Trump Druckmöglichkeiten gegenüber China? 
       
       Die Chinesen haben eine globale Politik gegen Erstschläge vorgeschlagen.
       Und sie wollten keine Bewaffnung des Weltraums. Aber die USA haben diese
       Vorschläge in der UNO blockiert. Wenn die USA zu einer breiteren,
       universellen Abrüstung bereit wären, könnte es sein, dass die Chinesen sich
       darauf einlassen und Begrenzungen ihrer Raketen akzeptieren. Aber wenn
       China es nicht tut, wird Indien es nicht tun. Wenn Indien es nicht tut,
       wird Pakistan es nicht tun. Und so weiter.
       
       Wozu führt das dann? 
       
       Es schafft nukleare Anarchie.
       
       Wer hat Interesse an nuklearer Anarchie? 
       
       John Bolton (Berater für die Nationale Sicherheit im Weißen Haus; d. Red.),
       Trump und ihre Alliierten glauben, dass sie den Rüstungswettlauf gewinnen
       können. Trump glaubt, dass er in der Lage ist, Russland, China und alle
       anderen mit höheren Rüstungsausgaben zu überbieten. Genau dasselbe hat
       schon Ronald Reagan gemeint. Als Gorbatschow 1986 von dem Treffen in
       Reykjavík zurückkam, klagte er über die Höhlenmenschen-Mentalität der
       Amerikaner. Und über deren Idee, die Sowjetunion in einen Rüstungswettlauf
       zu drängen, bei dem sie nicht mithalten konnten.
       
       Das hat ja geklappt. 
       
       Es war nicht haltbar, dass 25 Prozent und mehr des BIP in Militärausgaben
       flossen. Aber diese Politik ist dennoch sehr gefährlich und sehr
       destabilisierend.
       
       Schon unter Obama haben die USA eine nukleare Modernisierung begonnen, die
       weit über eine Billion Dollar kosten wird. Jetzt bahnt Trump den Weg für
       ein neues Wettrüsten mit Russland. Aber in den USA findet kaum eine
       öffentliche Diskussion über den Sinn dieser folgenschweren Entscheidungen
       statt. Warum? 
       
       Welcome to America. Hier dreht sich alles um den Gouverneur von Virginia
       oder um Migranten an der Südgrenze. Aber nicht um das INF oder den neuen
       Kalten Krieg. Die Amerikaner leben in einem wirklichkeitsfremden Zustand.
       Das begann schon 1985, als sich die bilateralen Verhältnisse mit der
       Sowjetunion zu verbessern begannen.
       
       Wie erklären Sie das? 
       
       Wenn es um Außenpolitik geht, gibt es hier keine echte Oppositionspartei.
       Die Demokraten haben zwar George W. Bush kritisiert, als er im Amt war.
       Aber dann hat Obama in Sachen Sicherheitsstaat, Massenüberwachung und
       US-Empire viel von der Politik legitimiert, die unter Bush so kontrovers
       war.
       
       Spielt es nicht auch eine Rolle, dass die USA im Gegensatz zu Russland nie
       massive Kriegszerstörungen auf dem eigenen Territorium erlebt haben? 
       
       Das ist ein Faktor. Aber insgesamt erleben wir hier eine bedrückende
       Ignoranz, wenn es um Geschichte geht. Sie haben keine Ahnung vom Kaltem
       Krieg und sie verstehen nichts von der Ukraine. Das macht es schwer, zu
       verstehen, was in der Welt passiert.
       
       Hat die Präsidentschaft von Trump dieses öffentliche Bewusstsein über
       Außenpolitik nicht verändert? 
       
       Was mich optimistisch macht, sind die Schüler. Ich habe in diesem Jahr an
       die 30 Interview-Anfragen zum National History Day bekommen. Dabei geht es
       meist um das Manhattan Project (das die US-amerikanische Atombombe im
       Zweiten Weltkrieg entwickelt hat; d. Red.), das jahrelang niemanden
       interessiert hat.
       
       Was sagen die Parlamentarier zu Trumps INF-Rückzug? 
       
       Es gibt zehn Demokraten im Senat, die Trump daran hindern wollen, den
       INF-Vertrag zu kündigen. Sie wollen die Finanzierung von Raketen, die nicht
       den Regeln des INF-Vertrags entsprechen, verhindern.
       
       10 von 100 Senatoren sind nicht besonders viel. Was können sie ausrichten? 
       
       Sie haben eine Chance, es durch das Repräsentantenhaus zu bringen. Aber im
       Senat ist es zweifelhafter.
       
       Ist Trump in Atomfragen also weiterhin allein an Bord? 
       
       Wie in den 80er Jahren gibt es die Öffentlichkeit. Sie hat damals eine
       Atmosphäre geschaffen, die Ronald Reagan entgegen seiner ursprünglichen
       Absicht einem Verbot von Atomwaffen in Reykjavík nahe kommen ließ. So eine
       Atmosphäre könnte wieder entstehen. Dafür spricht auch die neue Energie in
       der Demokratischen Partei, die mit den jungen und progressiven Frauen in
       das Repräsentantenhaus gekommen ist.
       
       Der INF-Vertrag war einer der letzten des Kalten Kriegs. Seit er in Kraft
       getreten ist, haben sich Blöcke und nationale Grenzen, aber auch
       Waffentechnologien verändert und ist die Zahl der Atomwaffen von rund
       65.000 auf rund 10.000 reduziert worden. Macht es da nicht Sinn, einen
       neuen Vertrag zu schließen? 
       
       Es macht Sinn, zu versuchen einen neuen zu verhandeln. Aber nicht, den
       INF-Vertrag in dem Prozess aufzukündigen. Was wir brauchen, ist mehr
       Kooperation, mehr Vertrauen, mehr Verhandeln, mehr Diplomatie. Aber was die
       USA tun – angefangen mit dem ABM-Vertrag (der eine Begrenzung von
       Raketenabwehrsystemen regelte; d.Red.), dem Auszug aus dem Pariser
       Klima-Abkommen, aus dem Iran-Abkommen und jetzt aus dem INF-Vertrag –, ist
       etwas anderes.
       
       Und es geht weiter: Trump hat bereits angekündigt, dass er nicht zu
       Diskussionen über die 2021 fällige Erneuerung des neuen START-Abkommens
       bereit ist. Das lässt befürchten, dass wir auf dem Weg zurück in die 80er
       Jahre sind. Damals gab es in der Welt das atomare Zerstörungspotenzial von
       1,47 Millionen Hiroschima-Bomben. Dahin könnten wir zurückkommen. Aber
       seither ist die Welt gefährlicher geworden. Mit Dutzenden von Ländern, die
       technologisch die Fähigkeit haben, sich atomar zu bewaffnen, und die einen
       Druck spüren, das zu tun. Das macht die nukleare Anarchie zu einer realen
       Möglichkeit.
       
       Was sollte ein neuer Vertrag leisten? 
       
       Ich glaube nicht, dass es eine Chance für einen neuen Vertrag gibt. Die
       einzige Hoffnung, die wir haben, ist es, nicht zu erlauben, den alten
       Vertrag zu zerreißen. Wenn es tatsächlich darum ginge, ob sich Russland an
       den Vertrag hält, müssten gegenseitige Inspektionen der logische Schritt
       sein. Die USA könnten russische bodengestützte Raketen inspizieren. Und die
       Russen könnten das AEGIS-Abwehrsystem der USA in Rumänien inspizieren, von
       dem sie glauben, es könne leicht für das Abfeuern bodengestützter
       Cruise-Missiles umgerüstet werden.
       
       Welche Rolle sehen Sie für Europa in dieser Situation? 
       
       Der deutsche Außenminister Heiko Maas und die Außenbeauftragte der EU,
       Federica Mogherini, haben den INF-Vertrag deutlich unterstützt. Aber die
       Nato ist sofort eingeknickt und hat Trump den Rücken gestärkt, obwohl sie
       den INF zuvor als eine Säule der Stabilität und der Waffenkontrolle
       bezeichnet hat.
       
       Woher kann also die Lösung kommen? 
       
       Ich hoffe, dass die europäische Öffentlichkeit Druck auf die politisch
       Verantwortlichen ausübt. Europa kann den USA die Stationierung neuer
       Raketensysteme verbieten und die USA auch unter Druck setzen, indem es den
       Abzug der anderen Atomwaffen aus Europa verlangt. Europa sollte die USA an
       diesem Punkt nicht als Alliierte betrachten. Sie bringen die Welt in
       Gefahr. Das zwingt Europa dazu, eine unabhängige Position einzunehmen.
       
       Europa sollte stärker auf Russland zugehen. Es könnte sein Missfallen auch
       ausdrücken, indem es ein Veto gegen den exzessiven Gebrauch von Sanktionen
       einlegt. Die Europäer versuchen gerade etwas gegenüber dem Iran, wo Trump
       ebenfalls ein Abkommen gekündigt hat, das funktionierte. Vielleicht ist
       die Umgehung des US-Finanzsystems der alternative Weg und das Vorbild.
       
       15 Feb 2019
       
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