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       # taz.de -- Kolumne Schlagloch: Geschwächte Wucht der Enthüllung
       
       > Macht erhält sich heute nicht mehr durch Geheimniskrämerei. Enthüllungen
       > führen dazu, dass das Volk Bescheid weiß – und abstumpft.
       
   IMG Bild: Fast ein Fünftel der Deutschen glaubt, dass es sich bei diesen Kondensstreifen um Gift handelt
       
       Einst war Geheimniskrämerei das oberste Gebot der Staatskunst. Begriffe wie
       „graue Eminenz“ oder „Strippenzieher“, Persönlichkeiten wie Kardinal
       Richelieu oder [1][Richard „Dick“ Cheney] stehen stellvertretend für eine
       Politik im Hintergrund, die alles Wesentliche vor dem Licht der
       Öffentlichkeit verbirgt und alles Sichtbare als Schein und Trug inszeniert.
       Machtpolitik bestand zu einem wichtigen Teil aus Ablenkung sowohl der
       Feinde (wie alle klassischen Kriegsratgeber postulieren) als auch der
       eigenen Gesellschaft (zumindest der einflussreichen Kreise).
       
       Da das entscheidende Wirken im Verborgenen erfolgte, waren journalistische
       oder aktivistische Enthüllungen von beachtlicher Sprengkraft, weil sie in
       einem dramatischen Akt des Entschleierns etwas zum Vorschein brachten, das
       zuvor nur befürchtet wurde. Die Spekulation, injiziert mit Beweisen, gerann
       zu einem verlässlichen Porträt dubioser oder gar diabolischer
       Machenschaften.
       
       Gerade solches Licht im Dunklen dient als Vorbild für das Genre der
       Verschwörungstheorie. Denn wenn gelegentlich etwas aus undurchsichtigen
       Tiefen an die Oberfläche geschwemmt wird, was uns schockiert und
       beunruhigt, was lauert wohl noch im Schatten unserer Kenntnis, und wie viel
       heftiger wäre unsere Reaktion, wenn wir über sämtliche Netzwerke, Kabale
       und Verflechtungen Bescheid wüssten, die für die stabile Existenz von
       Macht, Geld und Gewalt sorgen?
       
       So weit, so klar im Reich des Opaken. Was lange galt, scheint aber nun
       infrage gestellt zu werden. Die Strategie gegenwärtiger Präsidialpaten, an
       vorderster Front Donald Trump, besteht zunehmend darin, nicht mehr von den
       eigenen Verfehlungen abzulenken, sondern diese mithilfe einer Lügen- und
       Geständnismaschinerie derart laut zu verstärken und penetrant zu
       wiederholen, dass die Öffentlichkeit – mit Ohrstöpseln bewaffnet –
       narkotisiert auf das eigene Entsetzen starrt.
       
       ## Allgegenwart von Geldwäsche, Betrug und Korruption
       
       „Die politische Lüge hat eine Art unheilige Immunität erlangt“, schrieb
       Louis Menand neulich im New Yorker, „weshalb Lügner, wenn sie erwischt
       werden, nicht mehr darüber klagen, dass sie missverstanden worden sind.“ Im
       Gegenteil: Wer die neue Kunst beherrscht, der beschuldigt einfach die
       Ankläger der Lüge.
       
       Weil Falschheit vermeintlich überall lauert, erscheint die sich dynamisch
       verändernde Welt noch verwirrender – und ethisch unentzifferbar. Wir
       glauben an alles und nichts, vermuten, dass jede Geschichte möglich sein
       könnte und doch wahrscheinlich unwahr ist. Das ist das Paradoxon unserer
       Zeit: Obwohl die Öffentlichkeit aufgrund inflationärer Unwahrheit alles
       potenziell für eine Lüge hält, ist sie bereit, vieles zu glauben.
       
       Durch das tägliche Bombardement mit Skandalen aller Couleur wird die
       ethische und emotionale Wucht der Enthüllung geschwächt. Ein Exhibitionist,
       der immer wieder nackt herumstolziert, wird in Gegenwart einer wachsenden
       Zahl anderer Exhibitionisten weitaus weniger negativ auffallen als zuvor.
       Empörung ist Ausdruck einer Sensibilität, die abstumpft, wenn sie täglich
       eingefordert wird. Exhibitionistische Aufrüstung führt zu einem Absterben
       der Entrüstung.
       
       Das Wort „demoralisieren“ deutet es schon an: Die darin enthaltene Lähmung
       ist nicht Folge eines Moralverlusts. Vielmehr beschreibt es eine Moral, die
       angesichts von ethischem Chaos, selbstgefälliger Ignoranz und absichtlicher
       Dummheit erschöpft in den Seilen hängt. Abgelenkt wird zwar immer noch von
       der Oligarchisierung der Welt und der Zerstörung solidarischer Strukturen,
       nicht aber von einzelnen Aspekten dieser Entwicklung.
       
       Die vielfältigen Enthüllungen der letzten Jahre tragen zu dieser
       Abstumpfung bei. In dem Maße, in dem Leaks, etwa die Panama Papers, ganze
       Bibliotheken von kriminellem Verhalten zugänglich gemacht haben, gewöhnen
       wir uns an die Allgegenwart von Geldwäsche, Betrug und Korruption, von
       Raffgier und sexueller Übergriffigkeit, bis das, was einst
       „Schattenwirtschaft“ oder „Sünde“ hieß, von geradezu zwangsläufiger
       Selbstverständlichkeit erscheint. Willkür als Naturgesetz – das ist der
       größtmögliche Erfolg jeder macht- und vermögenserhaltenden Strategie.
       
       ## Das Geheimnis muss nicht mehr gelüftet werden
       
       „Wenn das Volk es nur wüsste“ hat ausgedient als Stoßgebet des politischen
       Engagements. Das digitalisierte Volk weiß Bescheid oder hat Zugriff auf
       Wissen, die Medien wissen es und publizieren es manchmal sogar, die
       Politiker wissen es auch. Das große Geheimnis muss nicht mehr gelüftet
       werden – wir sind dabei, uns so sehr an seinen Anblick zu gewöhnen, dass
       wir es kaum mehr wahrnehmen.
       
       Verstärkt wird die Unsichtbarkeit des Evidenten durch die Überproduktion an
       Verschwörungstheorien. So behauptet etwa die absurde
       [2][„Chemtrail“-These], die laut einer repräsentativen Befragung immerhin
       von 18 Prozent der BürgerInnen in Deutschland „geglaubt“ wird, dass böse
       Wissenschaftler giftige Chemikalien in der Hemisphäre versprühten, um das
       Klima zu manipulieren und die Menschen zu dezimieren. Diese perfiden
       Strippenzieher hätten sich Zugang zu Verkehrs- und Militärflugzeugen
       verschafft. Beweis: die Kondensstreifen.
       
       Verwirrend an der Popularität solcher Verschwörungstheorien ist, dass der
       real existierende Kapitalismus gleichzeitig in planetarischem Ausmaß Umwelt
       und Klima zerstört und Menschen krank macht. Das ist allzu bekannt, die
       ökologische Zerstörung ist somit kein Aufreger mehr, [3][die altmodische
       Fantasie eines geheimen Komitees aus Wissenschaftlern] (die neuen
       Bösewichte) hingegen sorgt immer noch für Aufregung.
       
       Verschwörungstheorien sind keineswegs auf die Spitze getriebene
       Enthüllungen, sondern affirmative Ablenkungen. Wenn wir Wahrheit und Natur
       kaputtgehen lassen (durch einen eleganten konspirativen Doppelschlag gegen
       beide), bleibt am Ende nur noch eines übrig: das Geld. Und dass Geld
       schmutzig ist, regt seit etwa zwei Jahrtausenden niemanden mehr auf.
       
       3 Mar 2019
       
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