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       # taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Nationalisten? Verfassungspatrioten!
       
       > Sind Militärrabiner in der Bundeswehr ein Rückschritt? Nein, was der
       > Zentralrat der Juden in Deutschland fordert, ist im Sinne des
       > Grundgesetzes.
       
   IMG Bild: Überlebende des früheren KZ Auschwitz-Birkenau am 74. Jahrestag der Befreiung am 27.1.2019
       
       Manche mögen es befremdlich finden, dass ausgerechnet der Zentralrat der
       Juden in Deutschland derzeit vehement fordert, in der Bundeswehr mit ihren
       gerade einmal dreihundert jüdischen Soldaten Militärrabbiner einzustellen.
       Also auch hier neuer Nationalismus? Im Gegenteil! Geht es doch gerade
       darum, Verfassungspatriotismus zu fördern.
       
       Wie heißt es doch im ersten Artikel des Grundgesetzes: „Die Würde des
       Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
       aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu
       unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
       menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
       Hier ist von der Würde des Menschen, und das heißt aller Menschen, die Rede
       – und eben nicht: der Würde des Deutschen.
       
       Tatsächlich ist es nicht zuletzt eine jüdische Erfahrung, die sich darin
       niederschlägt. So wird in des italienisch-jüdischen Chemikers Primo Levi
       kristallklarem Bericht über seine Lagerhaft in Auschwitz den Erfahrungen
       absoluter Entwürdigung Rechnung getragen: „Mensch ist“, so notiert Levi für
       den 26. Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers „wer tötet, wer
       Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung
       verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf
       gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein
       Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild
       des denkenden Menschen weiter entfernt als … der grausamste Sadist.“
       
       ## Natürliche Neigung zur Nächstenliebe schwindet
       
       Unter diesen Bedingungen schwindet sogar die natürliche Neigung zur
       Nächstenliebe. Levi fährt fort: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen
       der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches,
       der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding
       gewesen ist.“
       
       Es waren jüdische Remigranten, die die Bundesrepublik und ihren Geist mit
       gegründet haben: So Theodor W. Adorno, der den Zielen einer Erziehung und
       Bildung im Hinblick auf den Nationalsozialismus bis heute ihre bisher
       unübertroffene Artikulation gegeben hat. Ziel aller Pädagogik, so Adorno,
       müsse es sein, dass Auschwitz sich nicht wiederhole und: Schon allein die
       Forderung nach einer Begründung dieses Postulats prolongiere das Unheil,
       dem es zu entgegnen gelte.
       
       Der auch aus dem Schock über Auschwitz formulierte erste Artikel des
       Grundgesetzes hat bedeutende historische Wurzeln. War es doch die
       kosmopolitische Philosophie der deutschen Aufklärung, die die nach dem
       Nationalsozialismus geschaffene deutsche Verfassung wesentlich geprägt hat:
       Forderte doch schon Immanuel Kant, dass der Mensch dem Menschen jederzeit
       auch Zweck sein müsse und niemals nur Mittel.
       
       ## Menschenfeindliche Traditionen deutscher Kultur
       
       Indes war es neben Adorno ein anderer deutscher Jude, der hessische
       Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den von ihm initiierten Frankfurter
       Auschwitz-Prozess unter die Devise „Gerichtstag halten über uns selbst“
       stellte und mit ihm die freiheits- und menschenfeindlichen Traditionen
       deutscher Kultur überwinden wollte. Dabei war es keineswegs
       selbstverständlich, dass sich ein erst im KZ inhaftierter, dann in die
       Emigration vertriebener deutscher Jude knapp zwanzig Jahre nach dem Ende
       des Mordens zum politischen Kollektiv der Deutschen – eben zu „uns“ –
       bekannte.
       
       Doch war er nicht der einzige jüdische Verfassungspatriot. Patriotisch
       handelten in diesem Sinne auch die Dichterin Hilde Domin und der
       Theatermann Fritz Kortner sowie die Politiker Herbert Weichmann, Jeannette
       Wolff und Josef Neuberger; Jüdinnen und Juden allesamt, die sich nicht von
       Hitler vorschreiben lassen wollten, ob sie Deutsche sind oder nicht. Sie
       alle haben, mehr oder minder ausdrücklich, für den Aufbau einer
       demokratischen Kultur und Gesellschaft in Deutschland Unschätzbares
       geleistet.
       
       Ignatz Bubis aber, auch er ein deutscher Patriot, der seinen Patriotismus
       verschämt hinter dem Bekenntnis zur Heimatstadt Frankfurt am Main
       versteckte, wurde von dem schicksalsdumpfen Nationalisten Martin Walser
       und dessen Claque derart gekränkt, dass er in Bitterkeit starb und sich im
       Land Israel beerdigen ließ.
       
       Bubis meinte bekanntlich, dass er als Jude des Holocaustdenkmals in Berlin
       nicht bedürfe. Daran ist so viel richtig, dass Juden und ihre Nachkommen
       zum Trauern um ihre Verwandten und Freunde auf dies Denkmal nicht
       angewiesen sind. Als Bürger jenes Staates aber, dem es in seinem
       Grundgesetz um die Würde des Menschen geht, können auch deutsche Juden
       heute sagen: Das ist unser Mahnmal. Nicht anders als im Fall der dem
       Grundgesetz unterstellten Bundeswehr. Daher gilt – ganz im Sinne von
       Bertolt Brechts „Kinderhymne“ aus dem Jahr 1953 – auch für die Forderung
       nach Militärrabbinern: „Und weil wir dies Land verbessern, / lieben und
       beschirmen wir’s. / Und das liebste mag’s uns scheinen/ so wie andern
       Völkern ihrs.“
       
       5 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
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