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       # taz.de -- ARD-Film „Klassentreffen“: Sternstunde der Improvisation
       
       > Es ist Jan Georg Schüttes dritter Streich: Der Film „Klassentreffen“
       > überzeugt mit seinem Schauspieler-Ensemble ohne Drehbuch.
       
   IMG Bild: Gesa, Sandra, Astrid und Katharina (v. l. n. r.) treffen sich zum 25. Abijubiläum
       
       Neulich nachts im Radio, ein Plausch zwischen Elke Heidenreich und [1][Sven
       Regener]. Irgendwann kommen sie auf das Thema Klassentreffen.
       
       Regener: „Ich geh da nicht hin!“ Heidenreich: „Man will es nicht. Ich will
       auch nicht Leute sehen, die ich mit 15 kannte, wie die jetzt mit 70
       aussehen, ich will das irgendwie nicht!“ Regener: „Ich glaube, es ist okay,
       wenn da mal einer ist oder zwei. Aber wenn dann gleich 30 …“ Heidenreich:
       „30 sind’s ja nicht mehr, die leben ja alle nicht mehr. Aber 15, 20 sind’s,
       die kommen. Und das ist deprimierend!“
       
       So herrlich deprimierend, dass es für Jan Georg Schütte einen prima Stoff
       für seinen neuen Film abgibt, seinen dritten Streich. Zuvor gab es von ihm
       bereits „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ (2014) und [2][„Wellness
       für Paare“] (2016). Nach der gleichen Rezeptur: ein Ort; eine
       Standardsituation; ein herausragendes Schauspieler-Ensemble; mit
       Rollenbeschreibungen statt vorformulierter Drehbuchsätze; viele Kameras
       (diesmal: 24), um ja keine Sternstunde der Improvisation zu verpassen; noch
       viel mehr Sitzfleisch im Schneideraum (ein Jahr), um die Unmengen an so
       entstandenem Material (130 Stunden) zu sichten, zu ordnen – und zu 90
       Minuten Fernsehfilm zu destillieren.
       
       ## Alle Schauspieler spielen Junggreise
       
       Klassentreffen-Filme sind immer auch Porträts einer Generation. Als sich
       1991 in Vivian Naefes „Für immer jung“ (ZDF) eine Clique aus dem einst
       idealistischen (Post-68-)Abiturjahrgang 1975 wieder versammelte, ging es da
       noch um die Enthüllung all der nie gebauten
       Weltverbesserungs-Luftschlösser.
       
       Die Utopien des Abiturjahrgangs 1994 waren – Schüttes Rollenbeschreibungen
       zufolge – viel kleiner, privater, materialistischer. Zum Beispiel die
       Geldbündel, mit denen Kida Khodr Ramadan bei jeder sich nicht bietenden
       Gelegenheit herumwedelt – ganz der Neuköllner Clan-Chef Toni Hamady,
       [3][als den wir ihn aus „4 Blocks“ kennen.] Nur dass sein Alter Ego
       Tierchirurg sein soll: „Paris Hilton ihr Hund hat die Hoden verloren. Isch
       hab neue Hoden gebaut, Botox für ihr Hund, alles!“
       
       Für das 25. Abi-Jubiläum ist die 1969 geborene Jeannette Hain genau
       genommen schon einen Tick zu alt, wie einige andere auch. Egal. Nein, gut
       so. Sie sind Schauspieler, und die sie spielen, sind Junggreise allesamt.
       Sie haben wenig erlebt, aber ach, sie tragen ja so schwer an ihrer
       verflossenen Jugend. Am Ende tragen sie T-Shirts mit dem Slogan: „Dieses
       Leben hatte ich nicht bestellt!“ Die einen kommen aus Los Angeles (oder
       auch nur aus Berlin) – die anderen (Annette Frier, Oliver Wnuk) wohnen
       immer noch in dem rheinischen Kaff, in dem sie schon zur Schule gegangen
       sind. Dort befindet sich auch der „Treffpunkt Paula“, eine Kegelbahn mit
       Holzimitat und hässlichen Fliesen auf dem Klo, darauf ein handgeschriebener
       Zettel: „Klospülung defekt!!! Bitte mit Gießkanne nachspülen!“
       
       „Es ist alles so klein. So klein!“, der saturierte Großkotz (Fabian
       Hinrichs) muss es allen anderen unter die Nase reiben. Im Grunde hat sich
       nichts und niemand geändert. Bis auf die Körper. Denkt man vor allem im
       Angesicht der Schauspieler, kein schlechter Coup, die Schütte neben ein
       paar zuletzt dauerpräsenten Gesichtern (Charly Hübner, Anna Schudt,
       Burghart Klaußner) auch verpflichtet hat, die in den vergangenen Jahren von
       der Mattscheibe verschwunden schienen. Elena Uhlig etwa oder Christian
       Kahrmann, von dem zu lesen war, er habe zwischenzeitlich eine Ausbildung
       zum Barista absolviert. Breit ist er geworden und grau – und empfiehlt sich
       so, rein physiognomisch, für die Hauptrolle im nächsten Helmut-Kohl-Biopic.
       Die ihn noch als den 13-jährigen Benny Beimer aus der „Lindenstraße“
       erinnern – begreifen vielleicht das Unbehagen der Elke Heidenreich.
       
       Echte Schauspieler-Biografien und echte Schauspieler (Marek Harloff, Anja
       Kling, Nina Kunzendorf), die fiktive Rollenbeschreibungen lebendiger
       machen, als es ein Drehbuch je könnte. So geht es durcheinander, so
       schaukeln sich die kleinen, gerne auch größeren Dramen auf, lösen sich
       wieder auf, nicht gleich in Wohlgefallen (wie in Til Schweigers
       „Klassentreffen 1.0“). All das viel krasser natürlich, als es auf einem
       echten Klassentreffen je zugehen könnte. Oder? Man kann es so genau nicht
       wissen, wenn man es damit hält wie Heidenreich und Regener.
       
       6 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sven-Regener-ueber-das-Kreuzberg-der-80er/!5444522
   DIR [2] http://www.spiegel.de/kultur/tv/wellness-fuer-paare-in-der-ard-meine-frau-will-sex-leider-nicht-mit-mir-a-1121554.html
   DIR [3] /Berliner-TV-Serie-4-Blocks/!5403879
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
       ## TAGS
       
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