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       # taz.de -- Journalist Dirk Gieselmann: Schönschreiberitis
       
       > Ein Journalist pfuscht bei Reportagen, drei große Medienhäuser beenden
       > die Zusammenarbeit. Der Fall spielt aber nicht in der Liga „Relotius“.
       
   IMG Bild: Autor*innen wählen zwischen Aufnahmen aus – aber das Motiv können sie nicht erfinden
       
       „Begreifen Sie sich als Kamera“, heißt es in der Journalismusschule, wenn
       es um die Reportage geht. Film-Metaphern sind beliebt bei Dozent*innen, die
       diese anspruchsvolle Textform unterrichten. Das Bild von der Kamera hilft
       auch beim Nachdenken über den Wahrheitsanspruch. Die Kamera ist nicht
       objektiv, sie ist subjektiv, weil sie geführt wird – und kann doch nur
       aufnehmen, was da ist.
       
       Denn es geht wieder ein Fälschungs-Gespenst um im Qualitätsjournalismus.
       [1][Ende Februar kam heraus], dass das SZ-Magazin die Zusammenarbeit mit
       dem freien Journalisten Dirk Gieselmann beendet (die taz berichtete).
       Gieselmann hatte in einem Text eine wichtige Protagonistin erfunden. Das
       flog auf, als man die Frau fotografieren wollte. Inzwischen haben auch
       [2][Spiegel Online] und nun auch die Zeit Unstimmigkeiten bei Texten des
       Autors festgestellt. [3][Darüber berichtete am Mittwoch das Branchenportal
       Meedia] – und rückt den Fall begrifflich in die Nähe des Relotius-Skandals,
       spricht von einem „offensichtlich gestörten Verhältnis zur Wahrheit“ bei
       Gieselmann. Was hat er also getan?
       
       Der Journalist hat offenbar immer wieder mal Szenen ausgeschmückt, sie
       angereichert durch Aspekte, die so nicht stimmen. Im [4][Einstieg zu einer
       umfangreichen Recherche], die auf Zeit Online erschienen ist, hat die
       Redaktion inzwischen einzelne Sätze entfernt. So wurde eine zeitliche
       Abfolge korrigiert, die Szene spielt statt „Im Februar“ nun „Ende März“.
       Die Beschreibung einer Fensterscheibe, an der das Wort „Happy“ geschrieben
       steht – gelöscht.
       
       Schwerer wiegt eine [5][Stelle], wo Zitate eines Geflüchteten aus Bautzen
       offenbar korrigiert werden mussten. Früher sagte der junge Mann dort den
       Satz „Wir sind den Nazis ausgeliefert“. Das sagt er nun nicht mehr. In der
       Stellungnahme unter dem Text spricht die Redaktion von
       „Transkriptionsfehlern“.
       
       ## Absurder Vergleich
       
       Die Liste von Korrekturen geht weiter, immer wurden Szenen ein wenig
       zurechtgebogen. Eine Änderung der Zeitfolge hier, ein „Verdichten“ da, ein
       Dazudichten eines Requisits dort. Es sind aber auch Nichtigkeiten dabei: In
       einer Restaurantkritik wurde die „Pfauenfeder“, die dort die Wand zieren
       soll, zu einer schlichten „Feder“ herabgestuft.
       
       Gieselmann war am Mittwoch nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Die
       Zeit [6][schreibt in ihrem Blog] „Der Autor hat uns selbst kontaktiert, um
       auf den Vorfall bei der Süddeutschen Zeitung hinzuweisen, und uns bei der
       Überprüfung aktiv unterstützt.“ Er beteuere, die Fehler seien „ohne
       Täuschungsabsicht entstanden“.
       
       Was Gieselmann getan hat, reicht fraglos aus, um das Vertrauen zu
       verspielen, das man als Autor genießt. Kein Redakteur und keine
       Factcheckerin wird einen Text bis auf die Pfauenfeder hin prüfen oder
       sechzehnjährige Geflüchtete ausfindig machen können. Deshalb müssen
       Redaktionen sich darauf verlassen können, dass alles, was in
       journalistischen Texten steht, auch stimmt. Die Art der Feder ist
       unerheblich, die erfundene Protagonistin nicht. Deswegen ist richtig, dass
       sich die Medien hier distanzieren und die Zusammenarbeit aufkündigen.
       
       Gleichzeitig ist jeder Vergleich mit dem Fall Relotius absurd. Dort ging es
       um systematisches Ausdenken ganzer Landschaftsformationen, Gebäude und
       Menschen, und das über Jahre. Das Beschönigen, das Ausschmücken und
       „Verdichten“ von Realität hingegen ist eine schlechte Angewohnheit
       allgemein. [7][Im Dienste der Schönschreiberei] werden derlei Kniffe
       verteidigt, auch von denen, die Reportage unterrichten.
       
       Dabei ist den Leser*innen mehr geholfen, wenn man Schwierigkeiten bei der
       Wahrheitssuche offenlegt, anstatt kunstvoll über sie hinwegzutäuschen – im
       Sinne der Kamera, die zwar den Blick führt, aber keine Menschen verdichtet.
       Diese Debatte ist von unschätzbarem Wert für den Journalismus. Aber sie
       muss sich an der Branche insgesamt abarbeiten, statt Einzelpersonen zu
       Bösewichten hochzustilisieren.
       
       In einer früheren Version dieses Textes stand, dass der
       Medienwissenschaftler Michael Haller das Verschmelzen von Personen in der
       Reportage gutheiße. Das ist nicht der Fall. Der Autor hat eine
       entsprechende Äußerung in einem taz-Interview mit Haller missverstanden. 
       
       In der taz ist 2017 ein kurzer Text von Dirk Gieselmann erschienen. Dieser
       wurde überprüft und ist unbedenklich.
       
       7 Mar 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ungereimtheit-bei-Recherche-aufgefallen/!5575133
   DIR [2] http://www.spiegel.de/plus/was-passiert-wenn-ein-fremder-mann-ein-verlorenes-maedchen-nach-hause-bringt-a-00000000-0002-0001-0000-000158843541
   DIR [3] https://meedia.de/2019/03/05/sz-spiegel-und-zeit-trennen-sich-von-autor-preistraeger-dirk-gieselmann-und-sein-gestoertes-verhaeltnis-zur-wahrheit/
   DIR [4] https://www.zeit.de/zeit-magazin/2017/11/angst-deutschland-reise-terrorismus-berlin-krieg/komplettansicht
   DIR [5] https://www.zeit.de/kultur/2017-03/deutschland-2017-deutschlandreise-buch-atlas-der-angst-d17#10
   DIR [6] https://blog.zeit.de/glashaus/2019/03/04/die-zeit-beendet-zusammenarbeit-mit-freiem-mitarbeiter/
   DIR [7] /Der-Fall-Claas-Relotius-und-Journalismus/!5557396
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Weissenburger
       
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       Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten mit den Fällen von Relotius und Menasse.