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       # taz.de -- Kinofilm „Beale Street“: Die Gesichter der Liebenden
       
       > Von der Unmöglichkeit, in einer ungerechten Welt glücklich zu sein:
       > „Beale Street“ ist die erste Verfilmung eines Romans von James Baldwin.
       
   IMG Bild: In „Beale Street“ laufen schöne Erinnerungen häufig in Zeitlupe ab
       
       „Ich wünsche niemandem, einen geliebten Menschen so zu sehen: durch eine
       Glasscheibe.“ Dieser Satz fällt gleich zu Beginn von „Beale Street“ und
       fasst bereits die Kernhandlung des Films zusammen: Es geht um zwei
       Menschen, die sich lieben, die einander anschauen, die sich jedoch weder
       berühren noch den Duft des anderen erkennen können.
       
       Zwischen sie schiebt sich in Form einer Trennscheibe ein Justizsystem
       rassistischer Willkür, das schwarze Menschen einfach wegsperrt,
       kontrolliert, kriminalisiert, misshandelt – eine recht aktuelle Story, wenn
       man so will. Sie spielt im verarmten Harlem der frühen Siebzigerjahre.
       
       Regisseur Barry Jenkins, der 2016 mit seinem Low-Budget-Drama
       [1][„Moonlight“] den Oscar für den Besten Film abräumte (übrigens der erste
       queere Film, der je in dieser Kategorie ausgezeichnet wurde) widmet sich
       auch in seinem neuen Film, „Beale Street“, der Erkundung von Begehren und
       der Verletzlichkeit von Körpern in einer rassistischen und patriarchalen
       Gesellschaft.
       
       Im Zentrum der Geschichte stehen die junge Erzählerin Tish (Kiki Layne) und
       ihr Geliebter Fonny (Stephan James), den sie aus Kindertagen kennt. Weshalb
       Fonny im Gefängnis landet, wird erst nach und nach klar. Der zweistündige
       Film besteht aus vielen Zeitsprüngen, die von der Annäherung der beiden
       erzählen und von der Unmöglichkeit, in einer ungerechten Welt verliebt und
       glücklich und unschuldig zu bleiben.
       
       ## Übersetzung in ausgedehnte wortlose Szenen
       
       Schuldig wird nicht nur Fonny von der Polizei erklärt, für eine
       Vergewaltigung, die er unmöglich begangen haben kann. Schuld und Sünde
       wirft auch Fonnys Mutter, Mrs Hunt (gespielt von der umwerfenden Aunjanue
       Ellis), Tish vor, als sie vor der versammelten Familie erklärt, dass sie
       von dem bereits inhaftierten Fonny schwanger ist.
       
       „Beale Street“ basiert auf dem Roman „Beale Street Blues“ des
       afroamerikanischen Schriftstellers [2][James Baldwin] (1924–1987), und
       spätestens bei dieser moralischen Verurteilung der jungen Frau wird
       deutlich: Baldwin schrieb in seinen Essays und Romanen über eine Menge
       Dinge, über Armut, über Sexualität, über Beziehungen, über Rassismus, doch
       drehten sich seine Erzählungen auch immer wieder um die Rolle der
       Schwarzen Kirche, in der Baldwin selbst aufgewachsen ist und in der er ein
       zentrales Hindernis für Emanzipationsbewegungen in der Schwarzen Community
       erkannte.
       
       Dass Tish von ihren eigenen Eltern als unverheiratete Schwangere vollste
       Unterstützung erhält, gehört zu den großen Stärken dieser Erzählung, die im
       Angesicht der Brutalität das Verliebtsein und das blinde Vertrauen in
       geliebte Menschen zelebriert. Barry Jenkins übernimmt in seiner
       Filmadaption viele Textpassagen eins zu eins aus dem Roman, lässt aber den
       Großteil davon ganz weg. Die Herausforderung, der sich Jenkins nämlich
       vornehmlich gestellt hat, ist die Übersetzung von Baldwins Erzählung in
       ausgedehnte wortlose Szenen, die vor allem aus Nahaufnahmen von Gesichtern
       bestehen.
       
       Die Dramaturgie verlässt sich in diesen Momenten ganz auf die Filmmusik von
       Komponist Nicolas Britell, mit dem Jenkins schon für „Moonlight“
       zusammengearbeitet hat. Die pompösen Hörner und Streicher sind genauso ein
       Wagnis wie Jenkins’ Fokus auf die Gesichter der Liebenden und darauf, wie
       sie einander anschauen. Um die Köpfe herum wird alles weichgezeichnet,
       schöne Erinnerungen kommen häufig in Zeitlupe. In den eher düsteren Szenen
       zerlegt Komponist Britell dieselben süßlichen Streicher- und Hornpassagen
       zu mysteriösen Jazzstücken. Das Wagnis glückt – zumindest für jenes
       Publikum, das ein Herz für gut gemachte Schnulzen hat.
       
       Auch verwendet Jenkins wie schon im Vorgängerfilm besondere Farbfilter, die
       sich durch die gesamte Story ziehen. Während es in „Moonlight“ vor allem
       kühle Blautöne waren, ist in „Beale Street“ alles gelb und grün: Von der
       Anfangssequenz an, in der das Paar durch gelbes Laub spaziert, scheint den
       gesamten Film über Herbst zu sein, obwohl mindestens eine komplette
       Schwangerschaft nacherzählt wird.
       
       Zudem ist in jeder Szene ein grünes Detail: ein Vorhang, der Boden, ein
       Pullover, die Tür. Die Farbe der Hoffnung zieht sich bis zum bitteren Ende
       dieses Films, dessen Hauptfiguren ihren Optimismus trotz allen Elends nicht
       aufgeben werden.
       
       Grün ist auch die Augenfarbe der großartigen Regina King, des heimlichen
       Stars des Films. Seit ihrer ersten Rolle in dem Hip-Hop-Filmklassiker „Boyz
       n the Hood“ (1991) übernahm die 48-jährige Kalifornierin unzählige
       Nebenrollen in TV- und Kinoproduktionen. Dieses Jahr wurde Kings weitgehend
       unbeachtete Karriere endlich gewürdigt [3][mit dem Oscar für die „beste
       Nebendarstellerin“] in ihrer Rolle als Tishs Mutter Sharon. Zu Recht, denn
       Regina Kings Performance macht eine gute Hälfte des Charmes aus, der von
       „Beale Street“ ausgeht.
       
       Es ist der wissende Blick ihrer Mutter, aus dem Tish die Kraft gewinnt, als
       Hochschwangere für die Freilassung ihres Geliebten zu kämpfen. Und es ist
       auch Mutter Sharon, die mithilfe des illegal zusammengekratzten Geldes nach
       Puerto Rico fliegt, um das vermeintliche Vergewaltigungsopfer ausfindig zu
       machen, das Fonny als Täter identifiziert hat und anschließend
       untergetaucht ist. Wobei „vermeintlich“ nicht richtig ist, da hier
       vonseiten der Frauen dem Opfer vertraut wird, sie glauben, dass die
       unbekannte Frau tatsächlich vergewaltigt wurde – allerdings nicht von der
       Person, die ihr von der Polizei als Täter vorgeführt wurde.
       
       ## Platz für Atmosphärisches
       
       Diese Reise nach Puerto Rico endet ohne Ergebnis und bringt den Plot des
       Films nicht wirklich weiter. Vielleicht war es Jenkins nur wichtig, diesen
       einsamen Aufbruch der Figur Sharon zu zeigen, ihre Ankunft bei
       Sonnenuntergang am Flughafen San Juan – als rein ästhetische Entscheidung
       und nicht unbedingt als inhaltliche.
       
       Auch sonst scheint einiges von der Handlung des Buchs in der Verfilmung
       vereinfacht worden zu sein, um Platz zu schaffen für Atmosphärisches. Und
       das funktioniert, und zwar vor allem deshalb, weil die personale Erzählerin
       des Films, Tish, eine schüchterne Erzählerin ist, die verlässlich
       unverlässlich alle Einzelheiten außen vor lässt, um die auch Jenkins’
       Inszenierung sich nicht schert – die sich das Publikum aber durchaus
       zusammenreimen kann.
       
       Die Verzweiflung der Post-Civil-Rights-Ära etwa wird in einem einzigen
       knappen, jedoch prominent platzierten Satz in der zweiten Hälfte des Films
       angedeutet: Fonnys sichtlich traumatisierter Freund Daniel, der ebenfalls
       drei Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht hat, sagt, er wisse nun, was
       [4][Malcolm X] gemeint habe, als er den weißen Mann den Teufel nannte. Und
       auch toxische Männlichkeit als Thema, das sowohl in Baldwins als auch in
       Jenkins’ Werken stets eine wichtige Rolle spielt, wird in „Beale Street“
       anhand zweier gegensätzlicher Szenen schemenhaft dekonstruiert: Als
       Positivbeispiel fungiert ein jüdischer Vermieter, der dem mittellosen
       jungen Paar sein Loft überlasst, weil er „für die Liebe“ ist.
       
       Als Negativbeispiel dagegen will in einer Szene, die sich kurz vor Fonnys
       Verhaftung zuträgt, ein weißer Polizist Fonny scheinbar aus einer Laune
       verhaften. Daran gehindert wird er von Tish, die ihren Körper zwischen die
       beiden Männer schiebt und das Sprechen für ihren Partner übernimmt. Die
       Deeskalation ist erfolgreich, und doch ist Fonny schnell aufgebracht über
       den schützenden Auftritt seiner Freundin.
       
       Gelöst wird auch dieses Problem mit ein, zwei Blicken, die die Liebenden
       einander zuwerfen. Der romantisierende Stil mag Geschmackssache sein. Die
       Zärtlichkeit aber wird der Seele von Baldwins Schreiben zweifelsohne
       gerecht.
       
       6 Mar 2019
       
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